Der dunkle Spiegel
Die erste Tat dieses Tages hätte sicher nicht Magdas Vorstellungen von Sittsamkeit entsprochen, darum führte sie sie ohne ihr Wissen aus. Nach einem Abstecher in die Küche trat sie vor das Tor und hielt Ausschau nach Pitter, einem gewitzten Bengel von etwa vierzehn Jahren, der seinen Lebensunterhalt als Päckelchesträger verdiente. Er hatte seinen strategisch günstigen Posten an der Straße zum Eigelstein-Tor schon bezogen, von wo aus er und seine Gesellen sich auf die hereinkommenden Pilger und Reisenden stürzten, um ihnen ihre Dienste anzubieten. Die reichten denn vom Tragen des Gepäcks, der Führung in die Stadt und zu den Gasthäusern bis hin zur Vermittlung weniger tugendsamer Dienstleistungen.
»Pitter, willst du dir Fleisch und Brot verdienen?«
Sie hielt ihm eine Holzschale mit kaltem Braten und ein Stück Roggenbrot unter die Nase, und der magere, immer hungrige Bursche nickte erfreut.
»Gut, dann geh für mich in die Stadt. Du weißt, wo die Gasse an der Burgmauer ist?«
»Klar!«
»Dort wohnt eine Frau, die ich unbedingt sprechen möchte. Sie heißt Aziza!«
»Oh, die maurische Hure wollt Ihr sprechen?« Pitter grinste anzüglich.
»Psst, sie ist keine Maurin!«
»Klar.« Pitter grinste womöglich noch breiter. »Was soll ich ihr sagen?«
»Dass ich heute Nachmittag, wenn es zur Non läutet, am Friedhof auf sie warte. Sie weiß schon, an welchem.«
»Klar. Mach ich. Kann ich das jetzt essen?«
»Klar!«, sagte Almut und grinste auch.
Ihre zweite Unternehmung hätte die Meisterin vom sittlichen Standpunkt aus sicher weniger kritisiert, die Vorgehensweise aber nicht gebilligt, denn Almut verließ den Konvent ohne Begleitung. Es war noch immer sehr kühl, und ein frischer Wind ließ ihren Schleier und ihre Röcke flattern. Doch die dicken Regenwolken hatten sich über Nacht verzogen, und nur vereinzelte weiße Lämmer weideten am Himmel. Dazwischen schien eine strahlende Sonne, und die Luft war klar wie ein reiner Kristall. Der Weingarten hinter dem Benediktinerinnen-Kloster Sankt Machabäer lag nicht weit entfernt, und Almut hatte noch nicht einmal einen Rosenkranz zu Ende gebetet, als sie der geschäftig arbeitenden Mönche ansichtig wurde. Vorsichtig bahnte sie sich den Weg entlang der noch immer schlammigen Pfade und blieb dann mit sittsam gesenktem Haupt stehen, um einen der Brüder, der sich in ihrer Rufweite befand, anzusprechen.
»Pater Ivo wollt Ihr sprechen? Dann wartet unten am Kelterhaus auf ihn«, beschied ihr der Mönch und stapfte durch die Rebenreihen davon. Almut wandte sich dem kleinen Steingebäude zu, das derzeit noch als Aufbewahrungsort für Kiepen und Handwerkszeug diente. Der Wein hatte eben erst Trauben angesetzt und wartete auf sonnige Tage, die ihm Saft und Süße in die Früchte füllen würden. Vor dem Haus stand eine Steinbank, die von der Morgensonne schon ein wenig erwärmt und vor dem schneidenden Wind geschützt war. Almut stellte den Korb ab, den sie mitgenommen hatte, und setzte sich nieder. Sie musste nicht lange auf Pater Ivo warten. Als das Glöcklein von Sankt Machabäer scheppernd zur Terz rief, kam er mit langen Schritten auf sie zu.
»Einen guten Morgen wünsche ich Euch, Begine. So schnell fallen Euch kluge Fragen ein?«
»Euch ebenfalls einen guten Morgen, Pater. Nicht nur mir sind Fragen eingefallen, auch anderen. Und darüber möchte ich mit Euch sprechen. Aber zuvor möchte ich Euch einladen, das Morgenmahl mit mir zu teilen.«
Sie zog das Tuch über dem Korb weg, in dem sie Roggenbrot mit Schmalz, Käse, eine Schüssel Kirschen, ein paar Anisküchlein, die Gertrud am Tag zuvor gebacken hatte, und einen Krug Wein mitgebracht hatte.
»Wollt Ihr mich schon wieder mit einem wohlgefüllten Magen milde stimmen? Eure Botschaft muss erschreckend sein.«
»Sie ist es. Aber Ihr überrascht mich – kann man Euch mit einem gefüllten Magen milde stimmen? Dann möchte ich Euch nicht in der Fastenzeit begegnen!«
»Hart und unbarmherzig bin ich in jenen Tagen«, nickte Pater Ivo und biss herzhaft in das Brot. Almut nahm sich ein Küchlein, und schweigend verspeisten beide die mitgebrachten Nahrungsmittel. Schließlich füllte Almut zwei Becher mit dem klaren, weißen Wein aus dem Krug und berichtete von dem Besuch des Inquisitors. Pater Ivo hörte mit gesenktem Kopf zu.
»Bruder Johannes Deubelbeiß, soso. Ihn werdet Ihr nicht mit einem Stück Brot und gutem Käse barmherzig stimmen können, Begine. Er hält ständig Fastenzeit.«
»Das fürchte
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