Der dunkle Spiegel
woher wisst Ihr, dass sein Inhalt ungiftig war?«
»Weil ich ihn getrunken habe.«
Pater Ivo blieb stehen und drehte mit einem Ruck den Kopf zu Almut.
»Das war Wahnsinn!«
»Nein, Notwendigkeit, Pater.«
»Bestimmt nicht, Begine. Ihr hättet sterben können!«
»Bruder Johannes hatte nicht so viele Bedenken wie Ihr.«
»Was hat dieser krumme Hund des Herren damit zu tun?«, knurrte Pater Ivo, den seine Erschöpfung jede Zurückhaltung vergessen ließ. Almut berichtete ihm in kurzen, sehr nüchternen Worten, was geschehen war.
»Seht Ihr, es war nicht gefährlich für mich, noch nicht einmal die Dosis konnte mir schaden. Der Inhalt des Fläschchens war nämlich stark mit Wein verdünnt.«
Schweigend erreichten sie St. Brigiden, und Pater Ivo öffnete die Tür.
»Setzen wir uns einen Moment zur heiligen Maria. Ich bin zu müde, um weiterzugehen. Und, verzeiht mir, Begine, ich bin auch entsetzt.«
Sie saßen eine Zeit lang am Marienaltar in der menschenleeren Kirche, und Almut bat in Gedanken die sanfte Gottesmutter um Verzeihung für ihre Zweifel an dem Priester.
»Ich hätte dir vertrauen sollen, Maria. Er ist mir wirklich freundlich gesonnen.«
Ihr stummes Gebet wurde unterbrochen, als Pater Ivo sagte: »Wenn die Arznei verdünnt war, der Junge aber wirklich nur fünf Löffel voll zu sich genommen hat – wer hat dann den Rest eingenommen und die Flasche wieder aufgefüllt?«
»Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Am naheliegendsten wäre Dietke, nicht wahr? Sie war im Besitz des Fläschchens. Wenn sie davon – aus welchen Gründen auch immer – selbst etwas eingenommen hat, warum hat sie es dann wieder aufgefüllt?«
»Weil sie einen Teil davon vergiftet und dem Jungen verabreicht hat?«
»Welchen Grund hat sie aber, dem Jungen den Tod zu wünschen?«
»Wäre ich skrupellos wie Bruder Johannes, dann würde ich es schon aus ihr herausbekommen.«
»Mein Gott, Pater Ivo, da sagt Ihr etwas! Wisst Ihr, de Lipa hat den Inquisitor beauftragt, den Mörder zu finden!«
»Der Mann ist nicht bei Sinnen! Bruder Johannes’ Methoden erscheinen mir äußerst zweifelhaft, und so tragisch Jeans Tod ist, ein Unschuldiger soll nicht die Strafe dafür tragen. Begine, ich bin heute wirklich zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Aber morgen werde ich mich wieder darum kümmern. Werdet Ihr mir helfen?«
»Kann ich Euch denn helfen?«
»Euer widerwärtigster Charakterzug, Begine, ist eine katzenhafte Neugier und die grässliche Unart, alles in Frage zu stellen. Natürlich könnt Ihr mir helfen.« Pater Ivo gähnte herzhaft und erhob sich dann. »Nun verratet mir nur noch eins – was ist in dem Topf, den das Kind dort so innig an sich gedrückt hält, als sei es der heilige Gral selbst?«
»Getrocknete Blüten mit einem besonderen Duft. Die Gewürzhändlerin konnte uns jedoch weder den Namen nennen noch deren Nutzen.«
Pater Ivo gab Trine ein Zeichen, und äußerst zögerlich kam sie zu ihm. Als er auf den Topf wies, wich sie scheu zurück und schüttelte heftig den Kopf.
Almut tätschelte ihr beruhigend die Hand und machte ein paar beschwichtigende Gesten, aber das Misstrauen blieb in Trines Gesicht. Nur unwillig händigte sie ihr schließlich das Gefäß aus. Almut öffnete den Deckel und reichte es Pater Ivo, der tief einatmend den Inhalt betrachtete. Dann verschloss er den Topf wieder und gab ihn Trine zurück, die ihn sofort an sich drückte und einige Schritte Abstand nahm.
Mit einem seltsamen Lächeln erklärte Pater Ivo: »Neroli, Begine, die Blüten der Bitterorange. Sie wächst in den südlichen Ländern und im Orient. Dort, wo die Luft weich und voller Musik ist und am Abend süßer Wind den heißen Herzen Kühlung bringt.«
»Und bittersüße Erinnerungen weckt, Pater Ivo?«
Der Mönch seufzte und zog die Kapuze tiefer über die Stirn.
»Für eine Begine seid Ihr viel zu sentimental.«
Almut lachte leise und nickte ihm zum Abschied zu.
»Schlaft Euch aus, Pater! Und habt schöne Träume!«
Neugier war es, unbezähmbare, drängende Neugier und auch ein Hauch von Abenteuerlust, die Almut dazu trieben, Magdas Anweisung, sich nicht mehr um den Mord zu kümmern, zu missachten und eine höchst unsittliche Maßnahme zu ergreifen. Mit Trine im Schlepptau wandte sie sich von St. Brigiden der Gasse zu, in der Aziza wohnte. Eng standen die Häuser dort zusammen, so dass in die schmale Straße dazwischen kaum Sonnenlicht fiel. Es war das Gebiet der Taschenmacher und Lederer, und die
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