Der dunkle Thron
und Carl starrten einander ins Gesicht, und es war Carl, der den Blick als Erster abwandte. »Worauf wartest du?«, grollte er.
Aber Nick hatte nicht die Absicht, sich mit ihm zu prügeln, denn er wollte nicht, dass die Fronten sich verhärteten. »Lass mich zufrieden, Carl«, befahl er leise. »Behalt deine Krone als König des Heubodens, ich will sie nicht. Alles, was ich will, ist meine Ruhe. Darum drück ich für heute ein Auge zu. Aber wenn du so was noch mal machst, sorg ich dafür, dass du einen Reitunfall hast, bei dem du dir jeden Knochen brichst. Wer weiß, vielleicht sogar den Hals.«
Carl starrte ihn mit leicht geöffneten Lippen an, und für einen Lidschlag stand Furcht in seinen Augen. Dann riss er sich los und stapfte mit langen Schritten Richtung Gesindeküche.
Ich würde Euch anflehen, wieder fortzugehen, wenn ich glauben könnte, dass es etwas nützt , hatte Prinzessin Mary geschrieben. Es war eine sichere, schön geschwungene Handschrift, aber eine eilig hingeworfene Nachricht auf einem Fetzen Papier, ohne Anrede und Unterschrift, genau wie die seine es gewesen war. Doch da ich weiß, dass Ihr das nicht tun werdet, danke ich Gott für den Freund, den er mir in der Not geschickt hat. Seid unbesorgt um mein Befinden. Meine Gesundheit hat sich gebessert. Aber wenn Ihr könnt, lieber Freund, lasst mich wissen, wie es um meine Mutter bestellt ist und was mit Sir Thomas und Bischof Fisher im Tower geschieht. Gott behüte Euch.
Nick las die Nachricht zweimal, hielt sie dann an die Flamme des Binsenlichts, das Polly mitgebracht hatte, und vergewisserte sich, dass kein Fetzen unverbrannt blieb. »Und wie geht es ihr wirklich, was meinst du?«, fragte er.
Polly hob die Schultern. »Ich seh sie nicht oft, denn ich muss mich ja um die kleine Prinzessin kümmern. Man hat Lady Mary oben in den Gemächern über dem Haupttor einquartiert, und die verlässt sie selten. Ob sie nicht will oder nicht darf, weiß ich nicht.«
»Wer ist bei ihr?«
»Lady Shelton und der Chamberlain haben die Mägde und Damen ausgesucht, die sich um sie kümmern. Nur ihre eigene Zofe durfte sie mitbringen …«
»Lucy Preston?«
»Glaub schon.«
Nick fluchte leise. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Alle anderen hier sind kühl zu Mary, manchmal auch richtig gemein. Lady Shelton redet ständig über die Schande, ein Bastard zu sein, wenn die Prinzessin in Hörweite ist, und das macht mich immer ganz krank, wegen unserer Eleanor. Lady Mary tut so, als mache ihr das gar nichts aus, und darum nennen die Mägde sie hochnäsig. Aber ich denke, sie versucht nur, sich zu schützen. Wann immer sie darf, geht sie in die Kapelle und bleibt stundenlang dort. Wenn Lady Shelton sie bestrafen will, verbietet sie es ihr. Das macht sie ziemlich oft. Ich glaub, sie … sie hasst die arme Lady Mary.«
Nick hob die Schultern. »Na ja, was soll man erwarten? Lady Shelton ist eine Cousine von Königin Anne.«
»Ehrlich? Das wusst ich nicht. Tja, dann ist es kein Wunder, dass sie alles dran setzt, Lady Mary das Leben bitter zu machen. Aber weißt du, es ist ganz komisch: Irgendwie kommt es mir so vor, als fürchtet sie sich vor ihr. Die Shelton vor der Prinzessin, mein ich. Dabei hat sie doch hier das Sagen, und Mary ist praktisch ihre Gefangene.«
Nick nahm ihre schmale, raue Hand und drückte sie kurz an die Lippen. »Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe. Mir scheint, du bist eine geborene Spionin.«
»Das scheint mir gar nicht so«, gab sie verdrossen zurück. »Ich habe von morgens bis abends und von abends bis morgens Angst.«
»Ich weiß, Polly.«
»Und ich hab zu Recht Angst«, fuhr sie fort. »Aber Lady Shelton? Wovor sollte die sich fürchten? Ich versteh das nicht.«
»Ich nehme an, dass es ihr nicht gelingt, im tiefsten Innern daran zu glauben, dass Anne Boleyn die rechtmäßige Königin, die kleine Elizabeth die rechtmäßige Thronerbin ist. Natürlich würde sie das gern glauben, aber nicht jeder kann seine Überzeugungen so ausrichten, wie es ihm am bequemsten ist. Also hört Lady Shelton immerzu eine Stimme in ihrem Innern, die ihr zuflüstert, dass sie die wahre Prinzessin gefangen hält und schikaniert und dafür vielleicht in die Hölle muss. Und ich schätze, das lässt sie Mary büßen. Schlägt sie sie?«
Polly schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaub nicht. Jedenfalls hab ich noch nie davon gehört, und die Mägde tratschen den lieben langen Tag über Lady Mary. Wenn es so ist, wie du sagst, mit Lady Sheltons
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