Der dunkle Thron
mein Leben bedroht, wie Ihr sagt, dann ist doch gewiss auch sie in größter Gefahr.«
»Hoheit«, beschwor er sie, »wir können nicht warten, bis wir Kontakt zur Königin aufgenommen haben. Ohne Chapuys kommen wir niemals an sie heran. Im Übrigen war es Eure Mutter, die Euch mir anvertraut hat, also könnt Ihr gewiss sein, dass sie von mir erwartet, Euch in Sicherheit zu bringen.«
Mary hatte immer noch beide Daumen unters Kinn geklemmt und ging vor dem Altar auf und ab. Sie wirkte sehr blass und zierlich im trüben Dämmerlicht, aber ihre Haltung drückte eher Trotz als Furcht aus. »Es ist eine schwierige Entscheidung, Mylord. Ihr verlangt, dass ich offen gegen meinen Vater rebelliere und ihn durch meine Flucht vor den Augen der ganzen Welt bloßstelle.«
»Ich würde sagen, ein Vater, der das Leben seiner Tochter nicht vor dem Mordkomplott seiner eigenen Hofschranzen schützt, hat kein Anrecht mehr auf ihren Gehorsam«, entgegnete er.
Die Prinzessin fuhr leicht zusammen und blinzelte. Nick wusste, es war grausam, sie so unverblümt daran zu erinnern, dass ihr Vater ihr jegliche Zuneigung entzogen hatte, aber wenn es das war, was nötig war, um sie wachzurütteln, dann musste es eben sein.
Mary wandte den Kopf ein wenig nach rechts. »Da kommt jemand …«, flüsterte sie erschrocken.
Nick stieß wütend die Luft aus und trat den Rückzug zum Altar an. »Morgen nach der Vesper, Hoheit«, wisperte er hastig. »Sagt ja, ich bitte Euch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will zwei Tage Bedenkzeit. Kommt übermorgen wieder her, dann teile ich Euch meine Entscheidung mit.«
»Herrgott noch mal, Mary …«
»Ich schlage vor, Ihr zieht Euch jetzt zurück, Mylord«, unterbrach sie ihn frostig und warf einen vielsagenden Blick Richtung Tür.
»Wie Ihr wollt«, gab er zurück. »Ich hoffe, bis dahin ist es nicht zu spät.«
»Das hoffe ich auch.«
Nick schob den verhüllenden Wandteppich beiseite und zog die kleine Tür auf. Über die Schulter grollte er: »Norfolk und Shelton haben doch weiß Gott recht: Ihr seid sturer, als eine Frau es je sein dürfte.«
»Geht mir aus den Augen, Waringham!«, fuhr sie ihn an.
Nick machte einen übertriebenen Diener. »Es gibt Tage, da Ihr Eurem Vater so ähnlich seid, dass ich Euch den Hals umdrehen könnte, Hoheit.« Und damit verschwand er im Geheimgang.
Sie kam weder am übernächsten Abend noch am Tag darauf oder an irgendeinem anderen Abend der ganzen folgenden Woche. Unverrichteter Dinge und ratlos ging Nick zu der kleinen Kate, die man ihm und seiner Familie zugewiesen hatte – und wo er entgegen seiner kategorischen Ankündigung nun doch die meisten Nächte verbrachte, weil er der Versuchung ihrer schlichten Behaglichkeit meist nicht widerstehen konnte.
Er hoffte, dass Polly ihm irgendetwas sagen könne, was das eigentümliche Schweigen der Prinzessin erklärte. Aber Polly war nicht dort. Nick setzte sich auf einen Schemel, trommelte ungeduldig mit den Fingern der Linken auf den Tisch und schaute sich um. Es war ein schlichtes, aber anheimelndes Häuschen: ein Holzbett mit Strohmatratze und guten Decken, daneben eine schlichte Truhe für Kleidung und sonstige Habseligkeiten. Durch das pergamentbespannte Fenster neben der Tür fiel weiches Abendlicht auf sauber gefegte Holzdielen und den gescheuerten Tisch. Es gab keinen Kamin, aber unter dem Bett lugte ein gusseisernes Becken hervor, das man bei Kälte mit glühenden Kohlen füllen konnte. An den niedrigen Balken über dem Tisch hatte Polly Sträuße von Kamille und anderen Kräutern kopfüber zum Trocknen aufgehängt, die einen schwachen Duft verströmten.
Nick ertappte sich bei dem Wunsch, er wäre tatsächlich nur Tamkin der Stallknecht, der mit Frau und Kind in dieser Kate lebte. Es wäre gewiss kein so schlechtes Dasein: harte Arbeit, aber ebenso unbeschwerte Sonntage mit Fußballspielen und Ringkämpfen nach dem Kirchgang, beschauliche Sommerabende unter der Linde vor dem Haus, jedes Jahr ein neues Kind und ganz normale Alltagssorgen. Ein gleichförmiges, belangloses Leben vielleicht, und er würde älter werden und seine Enkel auf dem Schoß halten und irgendwann sterben, ohne auch nur seinen Fußabdruck in der Welt zu hinterlassen. Aber wäre das wirklich so ein Verlust? Ein zu hoher Preis für ein Mindestmaß an Zufriedenheit? An Seelenfrieden? Was waren ein berühmter Name und fünfhundert Jahre Familientradition wert, wenn man sterben musste wie sein Vater oder unsichtbar werden wie er selbst, um
Weitere Kostenlose Bücher