Der dunkle Thron
ich mit meiner Schwester geschlafen habe«, antwortete George Boleyn tonlos und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich könne es ruhig zugeben, hat er gesagt. Es gebe einen Zeugen …«
»Wen?«, fragte Raymond voller Schrecken.
»Meine Frau. Meine kleine, duldsame, mausgraue Lady Rochford hat mich verleumdet und Cromwell gesagt, ich hätte Unzucht mit der Königin begangen. Gott steh uns allen bei …«
Im Laufe der Woche wurden noch weitere Männer verhaftet: Henry Norris, Francis Weston, William Brereton, Thomas Wyatt und Richard Page. Ihnen allen wurde zur Last gelegt, in unsittlicher Weise mit der Königin verkehrt und ein Mordkomplott gegen den König geschmiedet – mithin Unzucht und Hochverrat begangen zu haben. Aber die Yeoman Warders hatten Nick und George Boleyn anvertraut, dass keiner von ihnen sich schuldig bekannt hatte und niemand bis auf den bedauernswerten Smeaton gefoltert worden war, um ihm ein Geständnis abzuringen.
»Thomas Wyatt?«, fragte Nick. »Der Dichter?«
George Boleyn nickte bedrückt. »Er hat nie verhehlt, dass er Anne bewundert, und hat ihr Gedichte geschrieben. Der König schien nie Einwände zu haben – im Gegenteil, es schmeichelte ihm, dass alle Welt seine Gemahlin anbetete.«
»Die anderen kenne ich nur dem Namen nach. Wer ist dieser Henry Norris?«
»Er gehört schon seit Ewigkeiten zum Privy Chamber , dem Kreis der engsten Vertrauten des Königs. War sein Stuhldiener, um genau zu sein.«
»Sein bitte was?«
»Stuhldiener. Du weißt schon. Er begleitet den König zum Stuhlgang und … ist ihm dort behilflich.«
Nick hätte geglaubt, dass Boleyn ihn auf den Arm nehmen wollte, wäre der nicht viel zu deprimiert für Schabernack gewesen. »George … Du willst mir weismachen, es gebe einen Hofbeamten, dessen ehrenvolle Aufgabe es ist, dem König den Hintern abzuwischen?«
»Genau. Es ist eine enorme Vertrauensposition und darum eine große Ehre.«
Nick stieß einen angewiderten Laut aus. »Manche Ehren sind reizvoller als andere …« Er streckte die Füße vor sich aus, kreuzte die Knöchel und dachte nach. » Sieben angebliche Liebhaber. Was verspricht Cromwell sich nur davon, die Welt glauben zu machen, deine Schwester hätte dem König nicht nur Hörner, sondern gleich ein ganzes Geweih aufgesetzt?«
Boleyn trank lautstark aus seinem Becher. Er fing morgens an, war abends sternhagelvoll und schnarchte nachts wie eine ganze Armee Bogenschützen, aber der Wein stimmte ihn eher melancholisch als streitsüchtig, und darum erhob Nick keine Einwände. »Was Cromwell offenbar will, ist, den König vollkommen abhängig von sich zu machen«, antwortete der Bruder der Königin. »Indem er ihm das Gefühl gibt, von Verrätern förmlich umzingelt zu sein und nur ihm – Cromwell – noch trauen zu können. Und Henry … der König ist besonders empfindlich, was seinen Ruf als allzeit bereiter Frauenbeglücker angeht.«
»Weil er bislang keinen Sohn zustande gebracht hat?«
George schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Weil er … Schwierigkeiten hatte in letzter Zeit. Das hat die Königin mir im Vertrauen gesagt. Es hat ihr große Sorgen gemacht: Henry verlangte von ihr einen Sohn, sein Ton wurde immer schärfer, nur er selbst … konnte seinen Teil nur noch selten beitragen.«
Nick pfiff vor sich hin. »Jetzt wird mir so einiges klar …«
»Anne war ganz verzweifelt. Ich schwöre, ich habe zu niemandem ein Wort davon gesagt, aber bei Hof wird trotzdem darüber gemunkelt. Ich nehme an, einer der Ärzte hat geplaudert.« Er raufte sich die Haare, leerte den Becher und schickte Raymond nach neuem Wein. »Geh auf dem Weg beim Constable vorbei und frag noch mal nach, ob immer noch kein Brief von Erzbischof Cranmer gekommen ist«, bat er den Jungen.
»Ja, Mylord.« Er klopfte, und als die Wache öffnete, schlüpfte er hinaus.
Boleyn wartete, bis er mit Nick allein war, ehe er gestand: »Im Grunde weiß ich, dass von Cranmer keine Antwort mehr kommt. Er hat uns auch fallen lassen …«
»Ich denke eher, dass Cromwell alle Nachrichten zwischen dir und deinen letzten Freunden mit politischem Einfluss abfängt.«
»Kann sein. Dabei wird er Cranmer brauchen, um seine ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen und alle englischen Klöster vom Angesicht der Erde zu fegen …«
»Cromwell will die Klöster auflösen?«, fragte Nick fassungslos. »Aber wie soll die Welt ohne sie funktionieren? Wer soll die Schulen betreiben, Reisenden Obdach gewähren,
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