Der dunkle Thron
Kingston. Es ist wirklich ein Jammer, dass Kingston gestorben ist, weißt du, gerade in Zeiten wie diesen braucht der Tower einen fähigen Constable.«
»Wer ist der Neue?«
»Sir John Gage. Kein Mann nach meinem Geschmack, wenn du die Wahrheit wissen willst. Und er verliert schon die Lust an seinem Amt, hat er mir anvertraut. Es ist so voll im Tower, dass er gar nicht mehr weiß, wohin mit den Häftlingen.«
»Ja, das kenne ich …«
»Wenigstens Norfolks Mutter durfte er auf freien Fuß setzen, aber er hat immer noch mehr Damen in Gewahrsam, als ihm lieb ist. Und Lady Rochford hat den Verstand verloren.«
»Sagt nicht, der Kronrat hat sie foltern lassen.«
Suffolk schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig. Sie redet und redet und redet. Aber sie weiß, dass ihr Kopf fällig ist. Schließlich hat sie jedes Stelldichein zwischen Katherine und Culpeper arrangiert. Nichts kann sie retten. Ich schätze, sie hat aus Angst den Verstand verloren. Na ja, sie war seit jeher ein nervöses, unglückliches Ding.«
Nick leerte seinen Becher und stellte ihn auf den Tisch. Er hatte genug gehört. Er kam nicht umhin, an die mausgraue, ewig betrogene Lady Rochford zu denken, der er bei Anne Boleyns Krönung begegnet war. Gewiss, es war abscheulich von ihr gewesen, ihren eigenen Gemahl mit einer Lüge aufs Schafott zu bringen, aber wenn man ein bisschen genauer hinschaute, war auch sie ein Opfer von König Henrys grenzenloser Selbstsucht. Es war genau, wie Mary gesagt hatte: Dieser König zerstörte alles und jeden, der in Berührung mit ihm kam.
»Ich hoffe, das es jetzt zügig geht«, bekannte der Duke of Suffolk. »Der König leidet wie ein Hund. Je eher Katherine tot und begraben ist, desto schneller kann er anfangen, diese ganze verdammte Sache hinter sich zu lassen.«
»Und?«, fragte Nick spöttisch. »Was wird er tun, um sich von seinem Kummer abzulenken? Heiraten, nehme ich an.«
Aber Suffolk schüttelte versonnen den Kopf. »Ich würde meinen letzten Penny darauf verwetten, dass wir Krieg in Frankreich führen, ehe das Jahr zu Ende geht.«
»Krieg?«, wiederholte Nick verwirrt. »Gegen Frankreich? Aber … wieso?«
»Spielt das eine Rolle? Krieg gegen Frankreich ist eine liebe, alte englische Gewohnheit, oder nicht? Ein Grund lässt sich immer finden.« Er beugte sich leicht vor und sah Nick in die Augen. »Die letzten beiden Ehen des Königs sind gescheitert, Nick. Kläglich, wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen. Wenn er sich und seinem Land noch ein letztes Mal seine Männlichkeit beweisen will, wird er das bestimmt nicht im Ehebett versuchen. Also was bleibt ihm dann noch?«
»Danke, Annie. Du kannst gehen«, sagte Nick zu der jungen Dienstmagd, die zwei Jahre in der Krippe gelebt hatte, ehe Nick und John sie als Ersatz für Helen eingestellt hatten.
Das Mädchen knickste vor ihm, lächelte seiner Besucherin scheu zu und schlüpfte hinaus.
Als die Tür sich geschlossen hatte, stand er ohne Eile auf. »Schwester Janis. Welch unverhoffte Freude.« Er trat auf sie zu und nahm ihre Hände.
Sie neigte mit einem schelmischen kleinen Lächeln den Kopf zur Seite. »Dringende finanzielle Belange des Waisenhauses erfordern Eure sofortige Aufmerksamkeit, Mylord. Darum habe ich es auf mich genommen, mit der fraglichen Abrechnung zu Euch zu kommen.«
»Ja, darauf wette ich …« Nick zog sie mit einem kleinen Ruck an sich.
»Wo ist John?«, flüsterte sie.
»Hausbesuche.«
»Beatrice?«
»Bei ihrer Mutter.«
»Ich hoffe, sie haben viel zu besprechen …« Janis befreite ihre Hände, verschränkte sie in seinem Nacken und erwiderte seinen Kuss. Sie tat das mit einer vorbehaltlosen Hingabe, die ihn faszinierte und ihn gelegentlich in einen kleinen Glückstaumel stürzen konnte. Janis Finley, wusste er schon länger, war eine leidenschaftliche Frau. In jeder Hinsicht. Alles, was sie tat, tat sie mit ganzem Herzen, ganz gleich ob es sich um das Studium griechischer Philosophen, den Unterricht in der Krippe oder die Aufzucht von Kohlpflanzen handelte. Und mit der gleichen leidenschaftlichen Hingabe hatte sie sich an ihn verschenkt. Rückhaltlos. Er konnte das nie so recht begreifen, denn immerhin brach sie damit ihr Gelübde an Gott, doch sie hatte sich geweigert, darüber zu sprechen, als er das Thema einmal angeschnitten hatte. Also begnügte er sich damit, ihr Geschenk zu akzeptieren, ohne es zu hinterfragen.
Janis nahm seine Hand, ging rückwärts zum Tisch, setzte sich darauf und zog Nick zwischen
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