Der dunkle Thron
zugrunde gerichtet hat. Natürlich hätte Raymond sich niemals mit der Königin einlassen dürfen. Aber ebenso wahr ist: Der König hätte sie niemals heiraten dürfen. Die Gründe, warum er es getan hat, waren allesamt die falschen. Und ich sage dir, es ist keine Kette unglücklicher Zufälle, dass sie schon seine fünfte Gemahlin war. Alle vorherigen hat er auch zerstört. Meine Mutter, weil er Anne Boleyn um jeden Preis besitzen musste. Anne Boleyn, weil sie ihm keinen Sohn schenken konnte. Jane Seymour, weil er trotz ihrer inständigen Bitten keine Hebammen bei der Geburt meines Bruders zugelassen hat. Anna von Kleve hat Glück gehabt, weil sie ihm nicht nah genug gekommen ist, um seiner Zerstörungswut anheimzufallen, aber sind wir mal ehrlich: Ihr Leben ist ein Trümmerhaufen. Und jetzt Katherine Howard, dieses blöde Gänschen, weil sie in anderen Betten gesucht hat, was er ihr nicht geben konnte.«
Nick war geneigt, seinen Ohren zu misstrauen. Nicht nur diese für Marys Verhältnisse schamlose Unverblümtheit, vor allem die schonungslose Abrechnung mit ihrem Vater erschienen ihm so vollkommen untypisch, dass es ihn hoffnungslos verwirrte. Einen verrückten Moment lang fragte er sich gar, ob Mary ihm eine Falle stellte.
»Er ist wie ein ungezogenes, selbstsüchtiges Kind«, fuhr sie fort. »Alles, alles muss er auf der Stelle haben, und wenn er es hat, spielt er damit, und wenn es ihn schließlich langweilt, zerbricht er es. Kein Mensch außer ihm selbst hat die geringste Bedeutung für ihn. Er ist ganz und gar unfähig, einen anderen zu lieben. Oder Gott zu lieben. Gott ist ihm völlig gleich. Offen gestanden, Nick, mir graut vor meinem Vater. Ich gelange allmählich zu der Überzeugung, dass er in die Hölle kommen wird, wenn er stirbt. Verdientermaßen.«
»Gut möglich«, stimmte er zu. Und endlich wurde ihm klar, was ihr so gründlich die Augen geöffnet hatte. »Es war die Hinrichtung deiner Lady Margaret, die dich zu diesen Erkenntnissen geführt hat?«
Mary zuckte die schmalen Schultern. »Es ist nicht so, als hätte ich solche Dinge nicht schon früher gedacht. Und es stimmt. Das Schicksal der Poles, vor allem Lady Margarets, natürlich, hat mich ins Grübeln gebracht. Aber seltsamerweise hat nichts mich so zornig auf meinen Vater gestimmt wie der Selbstmord deines Bruders. Ich weiß doch genau, was er dir bedeutet hat und …«
Nick wandte den Kopf ab und hob abwehrend die Rechte. »Nein, Mary, bitte. Sprich nicht weiter.«
»Vergib mir. Was ich eigentlich meinte, war: Alle Könige lassen Menschen hinrichten oder bringen Krieg und Tod über ihr Land oder das eines anderen. Aber ein König, der seine Untertanen in solche Verzweiflung treibt, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als sich das Leben zu nehmen, das hat Seltenheitswert. Ich frage mich, was ich tun kann, damit mein Bruder anders wird.«
Mit einem kleinen Ruck kehrte Nick aus düsteren Gefilden zurück. Er dachte einen Moment nach. »Nicht viel mehr als das, was du ohnehin schon tust: Du gibst ihm ein gutes Beispiel mit deiner Güte und Mildtätigkeit. Mit deiner Art, Entscheidungen zu treffen: unbestechlich, wohlüberlegt und im Einklang mit dem Wort Gottes. Der Rest liegt bei seinen Erziehern und Lehrern, oder?«
»Edward und Thomas Seymour«, knurrte sie unwirsch. »Die Brüder seiner Mutter sind es, die die Erziehung des Prinzen lenken und überwachen, und sie sind Reformer der schlimmsten Sorte.«
»Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie schlechte Menschen sind«, wandte er ein.
»Doch, Nick, das tut es. Denn wer sich gegen die Kirche auflehnt, lehnt sich ebenso gegen Gott auf – ganz gleich, ob er es weiß oder nicht –, und wer sich gegen Gott auflehnt, stellt sich auf die Seite des Bösen. Dazwischen ist nichts.«
Er teilte diese Ansicht nicht. Er war überzeugt, sein Vater war ein guter und gottesfürchtiger Mann gewesen. So wie viele der Reformer, deren Briefe an seinen Vater Nick studiert hatte – der fürchterliche Doktor Luther eingeschlossen. Aber er wusste, er würde Mary niemals davon überzeugen, und er fühlte sich zu ausgelaugt, um es nochmals zu versuchen.
»Wer weiß«, antwortete er lahm und erhob sich von der steinernen Bank. »Vielleicht ist es so. Lass uns zurückgehen, Hoheit. Es ist kalt.«
Mary folgte seinem Beispiel und hängte sich bei ihm ein. Nick lotste sie auf dem kürzesten Weg zurück zum Palast, wofür Lady Claire ausgesprochen dankbar schien.
Vor dem Portal stießen sie auf
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