Der dunkle Thron
auf Augenhöhe mit ihm zu sein.
»Und die Mädchen in der neuen Schule unterrichten?«
»So ist es geplant.«
»Mich auch?«
»Eher nicht. Du bist ja kein Mädchen.«
»Warum müssen denn Mädchen von Damen und Jungen von Gentlemen unterrichtet werden?«
»Oh, es ist nicht zwangsläufig immer so, aber es hat viele Vorzüge.«
»Welche?«
»Es gibt gewisse Unterschiede in der Natur von Mädchen und Jungen. Meine Erfahrung lehrt mich, dass Frauen die Talente von Mädchen besser erkennen und fördern können, Männer die von Knaben.«
»Was für Unterschiede?«
»Francis«, mahnte Nick zerstreut, der die Kostenkalkulation für die Instandsetzung der unbewohnten Wohnquartiere überflogen hatte, die Madog ihm auf den Tisch gelegt hatte. »Das waren fünf Fragen.«
»Lasst ihn nur, Mylord, es stört mich nicht«, versicherte Janis.
»Darum geht es nicht«, erklärte er. »Francis und ich haben eine Vereinbarung, an die er sich halten muss.«
»Das stimmt, Madam«, vertraute Francis ihr an. »Ich vergesse das andauernd. Das ist keine böse Absicht, wisst Ihr, aber wenn ich einmal anfange zu fragen, dann ist es so schwierig, wieder aufzuhören.«
»Es liegt daran, dass jede Frage wie ein Baum ist«, erklärte sie ihm. »Die erste Frage ist noch ein gerader Stamm, aber die Antwort ist schon die erste Gabelung, aus ihr ergeben sich mindestens zwei neue Fragen. Folgst du dem linken Arm der Gabelung und stellst die Frage, ergibt die Antwort vielleicht schon eine Verzweigung mit drei neuen Fragen. Folgst du dem rechten Arm, ergeht es dir genauso. Und bald hast du einen ganzen Baum voller Fragen. Fünf sind für einen wissbegierigen Jungen gar nichts. Da lohnt es sich ja kaum anzufangen.«
Francis lächelte selig und wandte den Kopf. »Ich hoffe, du hast das gehört, Vater.«
»Klar und deutlich«, antwortete Nick und öffnete einen versiegelten Brief, der auf dem Tisch gelegen hatte. »Unsere Vereinbarung behält dennoch Bestand. Und nun sei so gut, mach dich auf die Suche nach Madog, Vater Anthony und Vater Simon und schick sie her.«
»Ist gut.« Francis ging hinaus und ließ die Tür offen.
»Francis …«, rief Nick ihn zurück.
Er wandte sich noch einmal um. »Ja?«
Nick hielt den Brief hoch. »Lady Mary schickt mir eine Einladung, Weihnachten am Hof des Prinzen zu verbringen. Möchtest du mitkommen? Deine Mutter und Schwester und den Prinzen besuchen?«
Die kornblumenblauen Augen leuchteten auf. »Au ja.«
»Dann schick auch Josephine zu mir. Du brauchst eine neue Garderobe, deine Hosen werden schon wieder zu kurz.«
»Der König von Schottland ist gestorben«, berichtete Nick seinen Freunden.
Simon, Anthony und Madog bekreuzigten sich. »Gefallen?«, fragte Letzterer. »Wir hörten Gerüchte über eine große Schlacht.«
»Die Schlacht hat es gegeben«, bestätigte Nick. »Ende November bei irgendeinem Nest nahe der Grenze namens Solway Moss. Norfolk hat gesiegt, und zwar gründlich. Er hat großes Glück gehabt, denn er hatte nur dreitausend Mann, die Schotten waren fünfmal so viele. Aber kurz vor der Schlacht starb ihr Kommandant, und die Schotten gerieten in Streit, wer die Führung übernehmen sollte. So wurde die Schlacht ein einziges Durcheinander, und die Schotten verloren. Nicht viele sind gefallen, aber hunderte auf der Flucht in den Sümpfen ertrunken und über tausend in Gefangenschaft geraten. König James …« Er hob seufzend die Schultern. »Es ist ein bisschen merkwürdig. Er starb keine drei Wochen später. Aus heiterem Himmel. Vor Schande, heißt es.«
Simon schnalzte missfällig mit der Zunge. »Kein Mensch stirbt vor Schande, Nick.«
»Sag das nicht. Aber ich wiederhole nur, was Cranmer mir erzählt hat.«
»Du warst bei Erzbischof Cranmer?«
»Allerdings. Ich brauchte seine Erlaubnis, um die Schule zu eröffnen, und habe mir gedacht, besser, ich spreche bei ihm selbst vor als bei einem seiner Untergebenen, die allesamt fanatische Reformer sind und mir deswegen die Pest an den Hals wünschen.«
»Wie praktisch, wenn man Lord Waringham ist und einfach zum Erzbischof von Canterbury gehen kann, um eine Gefälligkeit zu erbitten«, bemerkte Vater Anthony kopfschüttelnd.
Nick hob kurz die Schultern. ›Einfach‹ war es nicht gewesen. Wie ein Inquisitor hatte Cranmer ihn einer eingehenden und äußerst strengen Befragung über theologische und humanistische Grundsätze unterzogen, und erst als Nick das Gefühl gehabt hatte, seine Seele liege nackt und schutzlos auf den
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