Der dunkle Thron
denn mit dergleichen hatte er nicht gerechnet. Wer als Gefangener in den Tower kam, musste auf Folter und Tod gefasst sein, aber es gab einen Ehrenkodex, an den Constable und Wachen sich seit Jahrhunderten hielten: Sie griffen nicht ein und bewahrten Stillschweigen, ganz gleich, was die Folterknechte im Auftrag oder zumindest im Namen der Krone taten. Aber solange die Gefangenen nicht renitent wurden, rührten sie sie niemals an.
Doch wie so viele der schönen alten Sitten schien auch diese nicht mehr zu gelten, und das kam Nick gerade recht. Er stieß sich von der Mauer ab, schlug die Faust weg, die auf sein Gesicht zukam, und hieb Gage die geballte Rechte vor den Kehlkopf. Röchelnd wankte der Constable zurück, aber Nick folgte ihm, schlug ihm einen Zahn aus und brach ihm die Nase, ehe der Yeoman Warder ihm von hinten mit seinem gewaltigen Schlüsselbund eins über den Schädel zog. Nick fiel auf die Knie. Er war nur einen Moment benommen, doch bis er wieder klar sehen konnte, waren zwei weitere Wachen herbeigestürzt und hatten ihn gepackt.
Gage war zu Boden gegangen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam er wieder auf die Füße und warf einen raschen Blick zu den Wachen, um zu sehen, ob sie ihn insgeheim auslachten. Dann stierte er Nick an, und er bot einen leicht beunruhigenden Anblick mit dem blutüberströmten Gesicht und den hervorquellenden Augen, die Nick an Sumpfhexe erinnerten. Schließlich zückte der Constable ein blütenweißes Taschentuch, drückte es behutsam auf seinen blutenden Mund und nuschelte: »Ich weiß genau das richtige Plätzchen für eine wild gewordene Bestie wie Euch, Waringham …«
Der beißende Geruch nach Urin, Kot und nassem Fell war das erste, was Nick ansprang. Dabei war der Lions Tower kein geschlossenes Gebäude, sondern ein niedriger Rundbau um einen offenen Hof, ähnlich wie die Arena drüben in Southwark, wo Bärenhatzen und ähnliche Volksbelustigungen abgehalten wurden. Statt der Zuschauerränge waren es hier indes zellenartige Gitterkäfige, die das Rund bildeten, und einer davon war leer.
Der Sergeant der Yeoman Warders, der mit den Schlüsseln vorausging, betätigte einen Seilzug, und die massive Holzklappe, die als Käfigtür diente, glitt nach oben. »Rein mit Euch, Waringham.«
Nick musste sich vornüberbeugen, um durch die Öffnung zu passen, und im Innern konnte er sich nicht ganz aufrichten. Die drei Wachen folgten ihm, und damit wurde es fast schon eng im Käfig. Vier mal vier Schritte, schätzte Nick. An der rückwärtigen Mauer war eine lange, rostige Kette verankert, an welcher der Sergeant nun das Halseisen befestigte, das er mitgebracht hatte. Die anderen beiden hielten Nick an den Armen gepackt, während der Sergeant ihm das Eisen anlegte, obwohl Nick keinen Widerstand leistete. Es fühlte sich schwer und kalt an, aber es saß locker.
»Ganz schön frisch«, bemerkte eine der Wachen im Hinausgehen und schniefte.
Der Sergeant nickte. »Ich bin gespannt, wie lang er es hier macht.«
Während die Holzklappe herunterfuhr, überlegte Nick, ob die Yeoman Warders wohl Wetten auf ihn abschließen würden. Vermutlich ja. Sie wetteten auf alles und jeden, wusste er von seinem letzten Aufenthalt im Tower: Würde der Baron of Wo-auchimmer eher verurteilt als Lord Sowieso? Würde der Gefangene aus der letzten Zelle links im Untergeschoss an seinen Verletzungen sterben oder seine Hinrichtung noch erleben? Und die beliebteste Wette drehte sich immer um die Frage, wie lange der arme Teufel durchhalten würde, den sie als Nächstes auf die Streckbank legten …
Nick sah den drei Männern in ihren schmucken, blau-roten Uniformen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Dann kniete er sich ins feuchte Stroh und machte eine Bestandsaufnahme: Die Tierkäfige im Lions Tower bestanden aus zwei niedrigen Etagen. Rechts der Klappe führte eine gemauerte Rampe hinauf zu einer offenen Luke. Was es dort oben gab, wusste Nick nicht, und seine Kette war nicht lang genug, um es herauszufinden. Die waagerechten und senkrechten Gitterstäbe, die die Seiten und die Front seines Käfigs bildeten, boten keinerlei Schutz gegen die Kälte, aber sie bescherten ihm Licht. Nach vorn hatte er einen Ausblick auf ein Stück Hof und einen Holzschuppen, links und rechts in die Nachbarkäfige. Anfangs glaubte er, sie stünden leer, aber nachdem die Wachen abgezogen waren und der Lärm sich gelegt hatte, zeigten sich seine neuen Gefährten: Eine majestätische Raubkatze kam zur
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