Der dunkle Thron
schlichten, braunen Schal um die Schultern legte. »Eine Königin sein?«
Er stand ebenfalls auf. »O ja. Das kannst du, Hoheit.«
»Eine regierende Königin? Wie meine Großmutter Isabella?«
Er nickte, durchschritt an ihrer Seite die Vorhalle und hielt ihr die Tür in den Garten auf. Es war windig, der Himmel grau, aber es gab kein Wetter, das Mary von einem Spaziergang abgehalten hätte.
»Natürlich kannst du das«, gab er zurück, beinah eine Spur trotzig. »Deine Mutter hat dafür gesorgt, dass du alles lernst, was du dafür brauchst. Du hast das Rüstzeug, du hast politische Erfahrung und mehr Rückgrat als dein Vater und dein Bruder zusammen. Nur eine Kleinigkeit fehlt dir noch …«
Sie stieß einen unwilligen Laut aus. »Lass mich raten: der passende Gemahl.«
»Ich bin erleichtert, dass du es nicht vergessen hast. Selbst wenn du dein Versprechen gebrochen hast.«
»Keineswegs, Mylord. Aber du bist nicht hingerichtet worden, also war das Versprechen hinfällig.« Sie lächelte schelmisch und drückte kurz seine Hand. Dann murmelte sie versonnen: »Stell es dir vor, Nick. Stell es dir nur für einen Augenblick vor: Ich hätte die Macht, England vom Joch des Unglaubens zu erlösen und zurück in den Schoß der wahren Kirche zu führen. Ich weiß, das ist es, was mein Vater sich insgeheim immer gewünscht hat. Und ganz gewiss ist es das, was die Engländer sich wünschen.«
»Richtig. Du hättest die Macht, Mary. Und es ist das, was die Engländer sich wünschen. Jedenfalls die meisten, schätze ich. Und diese Kombination macht dich für Northumberland und seine Zukunftspläne so gefährlich, dass ich wünschte, du würdest mir erlauben, dich auf den Kontinent zu bringen, bis wir hier sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«
»Ach herrje, schon wieder neue Fluchtpläne?«, spöttelte Mary. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich werde keinen Schutz vor den Ungläubigen im Schatten meines mächtigen Cousins, des Kaisers, suchen; die Zeiten sind endgültig vorbei. Unsere Sache ist gerecht, die Sache Gottes. Und mein Platz ist hier.«
»Ich kann nur hoffen, dass Gott sich in der Frage so sicher ist wie du, Hoheit.«
Nick blieb drei Tage in Newhall, besuchte mit Mary zusammen die Messe, las mit ihr Vergil und sah zu, wie sie Simon Renard, den neuen kaiserlichen Gesandten, im Schachspiel schlug. Den Spitznamen »der Fuchs« trug Renard nicht nur wegen seines Namens. Er galt als einer der hellsten Köpfe im Dienste seiner kaiserlichen Majestät. Doch gegen Mary war er chancenlos. Nick, der wie alle Waringham ein äußerst mäßiger Schachspieler war, wurde es nie müde, ihren Triumphen beizuwohnen.
Doch als er sicher war, dass Northumberland keine Abteilung von Finstermännern nach Newhall schicken würde, um Mary verhaften zu lassen, ritt er nach London. Er besuchte Laura und Philipp in ihrer vornehmen Kaufmannsvilla in der Ropery, sah in der Krippe nach dem Rechten und verbrachte einen beschaulichen Abend bei seinem Cousin John und dessen Familie in dem alten Haus an der Shoe Lane. Und erst als ihm gar nichts anderes zu tun mehr einfiel, ritt er zum Tower.
»Euer Name, Sir?«, fragte die Wache am Middle Tower.
»Waringham«, antwortete er mit einer Geste auf das eingestickte Wappen an seinem Mantel und dachte flüchtig, wie viel angenehmer das Leben doch war, wenn man den Yeoman Warders im Tower unbekannt war.
»Und Ihr wünscht?«
»Ich möchte zum Duke of Norfolk.«
Fast gelangweilt winkte der junge Kerl ihn durch. »Beauchamp Tower, Euer Lordschaft. Kennt Ihr den Weg?«
»Ich werd’s schon finden …«
Im Innenhof der alten Festungsanlage war es merkwürdig still. Hier und da lungerten ein paar Yeoman Warders herum, und vor dem Wakefield Tower beschlug ein Hufschmied eine nervöse Stute. Das rege, oft schaurige Treiben vergangener Jahre schien kaum mehr als eine Erinnerung. Es gab nicht mehr viele politische Gefangene im Tower, denn der Duke of Northumberland hatte die gestürzten Seymours und ihre Anhänger nicht leben lassen, auf dass sie hier Moos ansetzen konnten. Norfolk war einer der Letzten, die immer noch schmorten, und als Nick vor dem Beauchamp Tower absaß und Esteban an einen Eisenring in der Mauer band, kam ihm die Frage in den Sinn, ob der Kronrat den alten Herzog vielleicht schlichtweg vergessen hatte, denn selbst hier stand keine Wache, um Nick nach seinem Begehr zu fragen.
Kaum hatte er die Tür erreicht, erlebte er die erste unangenehme Überraschung: Schwungvoll wurde
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