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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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ihn so furchtbar beschämte, was ihr passiert war. Doch allmählich hatte diese Empfindung sich auf seltsame Weise ins Gegenteil verkehrt, und er fühlte sich ihr näher als je zuvor in seiner Erinnerung. Die öffentliche Schande, die seine Eltern erlitten hatten, und König Henrys Verrat an ihnen hatten Waringham zu einem Ort der Einsamkeit und des Leids gemacht. Nick konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie es gewesen war: seine Mutter, die ein Kind in sich heranwachsen fühlte, das sie hasste. Und sich selbst hatte sie vermutlich noch viel mehr gehasst. So besudelt war sie in ihren Augen gewesen, dass sie sich selbst weggesperrt hatte, um die Welt von ihrer Gegenwart zu erlösen. Und draußen im Vorhof dieser Hölle, zu der ihr Leben geworden war, sein Vater, der in Verzweiflung und Hilflosigkeit an die Tür hämmerte, obwohl er genau gewusst hatte, dass er seine Frau nicht mehr erreichen konnte. Wenn Nick sich diese Dinge ausmalte, legte ihr Unglück sich wie ein Schatten auf seine Seele, und manchmal weinte er im Schutz der geschlossenen Bettvorhänge um sie. Und wenn er einmal dabei war, weinte er auch um die Kindheit, die seine Schwester und er hätten haben können, wäre ihre Mutter nicht gestorben. Aber er weinte nie lange, denn er kam sich albern und schwächlich dabei vor. Seine und Lauras Kindheit – so freudlos sie gewesen sein mochte – war vorüber. Also gab es keinen vernünftigen Grund mehr, darüber zu jammern. Und er war sicher, dass Gott trotz der vielen Ketzerschriften und der verbotenen Bibelübersetzung ein Auge zugedrückt hatte und sein Vater und seine Mutter jetzt in der Herrlichkeit des Paradieses wieder beisammen waren. Das war ein so wunderbarer, tröstlicher Gedanke, dass er ihn den Tränen manchmal wieder gefährlich nah brachte, und davon kurierte Nick sich, indem er sich vorstellte, was passieren würde, wenn die Sumpfhexe das Zeitliche segnete, unverdientermaßen ebenfalls Zugang zum Paradies fand und dazustieß. Der Gedanke amüsierte ihn, und er lachte vor sich hin. Das war boshaft, pietätlos gar, aber es war niemand da, der ihm Vorhaltungen machte. In gewisser Weise war er mutterseelenallein auf der Welt, wusste er, und es gab Stunden, da er sich einsam fühlte. Aber er wusste ebenso, dass er vermutlich nie wieder im Leben so frei sein würde wie jetzt.

Waringham, November 1529
    Bill Carpenter schüttelte düster den Kopf. »Es ist ein Wunder, dass der Bergfried noch steht, Mylord.«
    »Ich weiß. Vermutlich ist es die vierhundertjährige Gewohnheit, die ihn aufrecht hält.«
    »Ich versteh nicht wirklich genug davon«, bekannte der Zimmermann. »Aber ich schätze, über den Winter kommt er nicht mehr. Der Eckturm war tragend, versteht Ihr? Dieses Gemäuer ist wie ein Stuhl, der nur noch drei Beine hat. Ein Stups, und der Stuhl kippt um. Schwere Herbststürme und Schneelasten könnten dieser Stups sein.«
    Nick war erschrocken. »Kannst du irgendetwas tun?«
    Bill hob abwehrend die Linke. Der Zeige- und der halbe Mittelfinger fehlten. »Was Ihr hier braucht, ist ein richtiger Baumeister.«
    »Hm«, machte Nick. »Es gibt eine Menge Dinge, die ich brauche, glaub mir. Das Problem ist, ich bin vollkommen abgebrannt.«
    Der grauhaarige Zimmermann warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Das macht die Versuchung, für Euch zu arbeiten, nicht gerade größer, Mylord.«
    Nick grinste flüchtig. »Was ist mit einer … Balkenkonstruktion? Nur um das freischwebende Mauerwerk zu stützen? Als Behelfslösung, bis ich Steine kaufen kann.«
    Bill sah an dem alten Bauwerk mit der klaffenden Wunde hoch. »Ginge wahrscheinlich«, brummte er. »Aber …«
    »Dann tu’s«, fiel Nick ihm ins Wort. »Nimm ein paar Männer und schlag das Holz im Hetfield Forest. Und du bekommst deinen Lohn, Bill, ich versprech es dir. Nur tu es, und zwar bald.«
    Irgendetwas an seinen Worten überzeugte den Handwerker. »Abgemacht, Mylord.« Mit einer höflichen Verbeugung wandte er sich ab, setzte die Lederkappe auf und ging Richtung Torhaus.
    Nick blieb noch einen Moment im Burghof stehen, aber der Anblick des klaffenden Lochs in dem alten grauen Mauerwerk tat ihm nie gut. Er wollte ihn immer zur Kapitulation verleiten, dieser Anblick. Das Loch in der Mauer war wie ein Symbol für das Loch in Waringhams Finanzen. Nick hatte inzwischen herausgefunden, dass die Baronie theoretisch über ein jährliches Einkommen von rund achthundert Pfund verfügte, das sich aus Pachten und Verkäufen von Wolle, Bauholz

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