Der Dunkle Turm 3 - Tot
dir nichts ein?« fragte Roland. »Überhaupt nichts?«
War da etwas? Ein fernes Kribbeln wie das Déjà-vu -Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er die Schleuder in dem Holzsporn sah, der aus dem Baumstumpf herausragte? Eddie versuchte, dieses Kribbeln zu finden, aber es war fort. Er entschied, daß es überhaupt nicht dagewesen war; er wollte nur, daß es da war, weil Roland solche Qualen litt.
»Nein«, sagte er. »Tut mir leid, Mann.«
»Aber ich habe es dir erzählt.« Rolands Stimme war ruhig, doch Verzweiflung pulsierte in ihr wie ein scharlachroter Faden. »Der Name des Jungen war Jake. Ich habe ihn geopfert – getötet –, damit ich Walter endlich einholen und zum Reden bringen konnte. Ich habe ihn unter den Bergen getötet.«
An dieser Stelle konnte Eddie deutlicher werden. »Nun, das ist vielleicht so gewesen, aber du hast nicht erzählt, daß es so gewesen ist. Du hast gesagt, du bist allein auf einem irren Handwagen unter den Bergen durchgefahren. Darüber hast du eine Menge geredet, als wir am Strand entlanggegangen sind, Roland. Wie unheimlich es war, allein zu sein.«
»Daran kann ich mich erinnern. Aber ich erinnere mich auch, daß ich dir von dem Jungen erzählt habe, wie er von der Brücke in den Abgrund gestürzt ist. Und die Distanz zwischen diesen beiden Erinnerungen reißt meinen Verstand entzwei.«
»Ich verstehe das alles überhaupt nicht«, sagte Susannah besorgt.
»Ich glaube«, sagte Roland, »ich fange so langsam an, es zu verstehen.«
Er warf mehr Holz aufs Feuer, worauf ein dichter Schwarm roter Funken in den dunklen Himmel stob. »Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die wahr ist«, sagte er, »und dann erzähle ich euch eine, die nicht wahr ist… aber wahr sein sollte.
Ich habe in Pricetown ein Maultier gekauft, und als ich schließlich in Tull ankam, der letzten Stadt vor der Wüste, war es noch frisch…«
14
Und so schilderte der Revolvermann den letzten Teil seiner langen Geschichte. Eddie hatte vereinzelte Bruchstücke der Story gehört, aber er hörte völlig fasziniert zu, ebenso Susannah, für die sie vollkommen neu war. Er erzählte ihnen von der Bar, in deren Ecke das endlose Spiel Watch Me stattgefunden hatte, dem Klavierspieler namens Sheb, der Frau namens Allie mit der Narbe auf der Stirn… und von Nort, dem Grasesser, der gestorben und von dem Mann in Schwarz zu einem fragwürdigen Halbleben wiedererweckt worden war. Er erzählte ihnen von Sylvia Pittston, dem Inbegriff religiösen Wahns, und von dem letzten apokalyptischen Gemetzel, bei dem er, Roland der Revolvermann, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt getötet hatte.
»Ach du dicke Scheiße!« sagte Eddie mit leiser, zittriger Stimme. »Jetzt weiß ich, warum du so knapp an Munition gewesen bist, Roland.«
»Sei still!« schnappte Susannah. »Laß ihn zu Ende erzählen!«
Roland fuhr fort und erzählte seine Geschichte so stoisch, wie er die Wüste durchquert hatte, nachdem er an der Hütte des letzten Grenzbewohners vorbeigekommen war, einem jungen Mann, dessen erdbeerfarbenes Haar ihm fast bis zur Taille gereicht hatte. Er erzählte ihnen, wie sein Maultier schließlich gestorben war. Er erzählte ihnen sogar, wie das Haustier des Grenzbewohners, der Vogel Zoltan, dem Maultier die Augen ausgepickt hatte.
Er erzählte ihnen von den langen Wüstentagen und kurzen Wüstennächten danach, wie er den ausgekühlten Überresten von Walters Lagerfeuern gefolgt war und wie er schließlich halb besinnungslos und ausgetrocknet das Rasthaus erreicht hatte.
»Es war verlassen. Ich glaube, es war schon seit der Zeit verlassen, als jener große Bär da drüben gerade hergestellt worden war. Ich blieb eine Nacht und zog weiter. So ist es gewesen… aber jetzt erzähle ich euch eine andere Geschichte.«
»Diejenige, die nicht wahr ist, es aber sein sollte?« fragte Susannah.
Roland nickte. »In dieser erfundenen Geschichte – diesem Märchen – traf ein Revolvermann namens Roland in dem Rasthaus einen Jungen namens Jake. Dieser Junge stammte aus eurer Welt, aus eurer Stadt New York, und aus einem Wann irgendwann zwischen Eddies 1987 und Odetta Holmes’ 1963.«
Eddie beugte sich eifrig nach vorne. »Kommt eine Tür in dieser Geschichte vor, Roland? Eine Tür mit der Aufschrift DER JUNGE oder so?«
Roland schüttelte den Kopf. »Die Tür des Jungen war der Tod. Er war auf dem Weg zur Schule, als ihn ein Mann – den ich für Walter gehalten hatte – auf die Straße stieß,
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