Der Dunkle Turm 4 - Glas
zu spüren.
»Vermisst du deinen Vater, Susan?«
»Aye«, flüsterte sie. »Von ganzem Herzen.«
»Ich vermisse meine Mutter auf dieselbe Weise.« Er hielt sie jetzt an beiden Schultern. Ein Auge lief über; die Träne zog eine silberne Spur über seine Wange.
»Ist sie tot?«
»Nein, aber etwas ist geschehen. Mit ihr. Scheiße! Wie kann ich darüber reden, wenn ich nicht mal weiß, wie ich daran denken soll? In gewisser Weise ist sie gestorben. Für mich.«
»Will, das ist schrecklich.«
Er nickte. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie mich in einer Weise angeschaut, die mich bis ins Grab verfolgen wird. Scham und Liebe und Hoffnung, alles ineinander verschlungen. Scham über das, was ich gesehen hatte und von ihr wusste, Hoffnung, vielleicht, dass ich es verstehen und ihr vergeben könnte…« Er holte tief Luft. »In der Nacht des Empfangsessens, gegen Ende der Mahlzeit, hat Rimer etwas Komisches gesagt. Ihr habt alle gelacht…«
» Wenn ich gelacht habe, dann nur deshalb, weil es merkwürdig ausgesehen hätte, wenn ich als Einzige nicht gelacht hätte«, sagte Susan. »Ich mag ihn nicht. Ich halte ihn für einen Ränkeschmied und Rosstäuscher.«
»Ihr habt alle gelacht, und ich habe zufällig zum Ende der Tafel gesehen. Zu Olive Thorin. Und einen Augenblick lang – nur einen Augenblick – dachte ich, sie wäre meine Mutter. Der Gesichtsausdruck war irgendwie derselbe. Derselbe, den ich an jenem Morgen gesehen habe, als ich zum falschen Zeitpunkt die falsche Tür aufgemacht und meine Mutter erwischt habe, zusammen mit ihrem…«
»Hör auf!«, schrie sie und entzog sich seinen Händen. Plötzlich war alles in ihr in Bewegung geraten, alle Taue und Klammern und Schnallen, mit denen sie sich selbst zusammengehalten hatte, schienen gleichzeitig zu schmelzen. »Hör auf, hör doch auf, ich kann nicht mit anhören, wie du über sie sprichst!«
Sie streckte die Hände nach Pylon aus, aber jetzt bestand die ganze Welt für sie nur aus feuchten Prismen. Sie fing an zu schluchzen. Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern, als er sie wieder umdrehte, und wieder leistete sie keinen Widerstand.
»Ich schäme mich so«, sagte sie. »Ich schäme mich so, ich habe Angst, und es tut mir Leid. Ich habe das Angesicht meines Vaters vergessen, und… und…«
Und ich werde es nie wiederfinden können, wollte sie sagen, aber sie musste gar nichts sagen. Er verschloss ihr den Mund mit seinen Küssen. Zuerst ließ sie sich einfach nur küssen… und dann erwiderte sie die Küsse, erwiderte sie fast ungestüm. Sie wischte mit sanften Daumenbewegungen die Nässe unter seinen Augen weg, dann strich sie mit den Handflächen über seine Wangen, wie sie es sich zuvor so gewünscht hatte. Das Gefühl war überwältigend; selbst das sanfte Kratzen der Stoppeln dicht über der Haut war überwältigend. Sie schlang die Arme um seinen Hals, presste den offenen Mund auf seinen, hielt ihn fest und küsste ihn so heftig, wie sie konnte, küsste ihn zwischen den beiden Pferden, die einander einfach nur ansahen und dann weitergrasten.
9
Es waren die besten Küsse seines ganzen Lebens, und er vergaß sie nie: die nachgiebige Festigkeit ihrer Lippen und die festen Zähne darunter, drängend und nicht im Geringsten schüchtern; ihr duftender Atem, die sanften Rundungen ihres Leibes, den sie an ihn presste. Er glitt mit einer Hand zu ihrer linken Brust, drückte sie behutsam und spürte, wie ihr Herz darunter rasend schlug. Mit der anderen Hand strich er über ihr Haar, Seide an ihrer Schläfe. Er vergaß nie, wie es sich anfühlte.
Dann stand sie ein Stück von ihm entfernt, ihr Gesicht flammend vor Röte und Leidenschaft, und strich mit einer Hand über ihre Lippen, die er geküsst hatte, bis sie geschwollen waren. Eine hauchdünne Blutspur lief aus dem Winkel der unteren. Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihr Busen hob und senkte sich, als hätte sie gerade einen Wettlauf hinter sich gebracht. Und zwischen ihnen floss eine Strömung, wie er sie noch niemals in seinem Leben verspürt hatte. Sie war reißend wie ein Fluss und verzehrend wie ein Fieber.
»Nicht mehr«, sagte sie mit bebender Stimme. »Nicht mehr, bitte. Wenn du mich wirklich liebst, lass nicht zu, dass ich mich entehre. Ich habe ein Versprechen gegeben. Später, wenn dieses Versprechen erfüllt ist, kann meinetwegen alles Mögliche geschehen… wenn du mich dann noch willst…«
»Ich würde immer auf dich warten«, sagte er ruhig,
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