Der Dunkle Turm 4 - Glas
Stelle, die man für sie freigelassen hatte –, und die Menge brüllte wie aus einem Mund: »Charyou-BAUM! Charyou-BAUM! Charyou-BAUM!«
»Vogel und Bär und Fisch und Hase.«
Sie versuchte sich zu erinnern, wie er in jener Nacht mit ihr getanzt hatte. Versuchte sich zu erinnern, wie er sie in dem Weidenwäldchen geliebt hatte. Versuchte sich zu erinnern, wie sie einander zum ersten Mal auf der dunklen Straße begegnet waren: Danke-sai, unsere Begegnung steht unter einem guten Stern, hatte er gesagt, und ja, trotz allem, trotz diesem kläglichen Ende inmitten der Leute, die ihre Nachbarn gewesen waren und sich im Mondschein in paradierende Kobolde verwandelt hatten, trotz Schmerzen und Verrat und dessen, was ihr bevorstand, hatte er die Wahrheit gesagt: Ihre Begegnung hatte unter einem guten Stern gestanden, unter einem sehr guten, in der Tat.
»Charyou-BAUM! Charyou-BAUM! Charyou-BAUM!«
Frauen kamen und stapelten trockene Maishülsen um Susans Füße. Einige schlugen sie (was keine Rolle spielte, ihr geschwollenes und aufgequollenes Gesicht schien taub geworden zu sein), und eine – es war Misha Alvarez, deren Tochter von Susan das Reiten beigebracht worden war – spuckte ihr in die Augen und hüpfte dann unbekümmert davon, warf ihre Hände gen Himmel und lachte. Für einen Augenblick sah sie Coral Thorin, die mit Ernteamuletten behängt war und trockenes Laub auf den Armen trug, das sie nun über Susan schüttete; die Blätter sanken als knisternder, duftender Regen um sie herum nieder.
Und dann kam ihre Tante wieder, mit Rhea an ihrer Seite. Beide hielten eine Fackel in der Hand. Sie standen vor ihr, und Susan konnte kochendes Pech riechen.
Rhea hob die Fackel zum Mond. »CHARYOU-BAUM!«, schrie sie mit ihrer krächzenden alten Stimme, und die Menge antwortete: »CHARYOU-BAUM!«
Cordelia hob nun ihre Fackel. »KOMM, ERNTE!«
»KOMM, ERNTE!«, antworteten alle.
»Nun denn, Flittchen«, frohlockte Rhea. »Nun kommen heißere Küsse, als dein Liebster dir je geben konnte.«
»Stirb, Treulose«, flüsterte Cordelia. »Leben für die Saat, Tod für dich.«
Sie warf als Erste ihre Fackel in die Maishülsen, die Susan inzwischen bis an die Knie reichten; Rhea warf die ihre sofort hinterher. Die Hülsen fingen sofort Feuer und blendeten Susan mit ihrem gelben Licht.
Sie sog ein letztes Mal kühle Luft ein, wärmte sie mit ihrem Herzen und stieß sie zusammen mit einem trotzigen Schrei wieder aus: »ROLAND, ICH LIEBE IHN!«
Die Menge wich murmelnd zurück, als würde die Leute das, was sie getan hatten, jetzt, wo es zu spät war, mit Unbehagen erfüllen; das hier vor ihnen war gar keine Strohpuppe, sondern ein fröhliches Mädchen, das sie alle kannten, eine von ihnen, die aus einem unbegreiflichen Grund gefesselt und mit rot bemalten Händen auf dem Freudenfeuer des Erntefests saß. Noch einen Augenblick, und sie hätten sie vielleicht gerettet – jedenfalls einige –, aber es war zu spät. Das trockene Holz fing Feuer; ihre Hose fing Feuer; ihr Hemd fing Feuer; das lange blonde Haar loderte um ihren Kopf wie eine Krone.
»ROLAND, ICH LIEBE IHN!«
Am Ende ihres Lebens spürte sie Hitze, aber keine Schmerzen. Sie hatte Zeit, an seine Augen zu denken, Augen von jenem verwaschenen Blau, das die Farbe des Himmels beim ersten Morgenlicht war. Sie hatte Zeit, ihn sich auf der Schräge vorzustellen, wo er auf Rusher dahingaloppierte, während das schwarze Haar an seinen Schläfen zurückflog und sein Halstuch flatterte; ihn unbeschwert und von einem Frieden erfüllt lachen zu sehen, den er nie mehr in dem langen Leben finden sollte, das länger währte als ihres, und sein Lachen nahm sie mit sich, als sie das Bewusstsein verlor, als sie aus dem Licht und der Hitze in die seidige, tröstliche Dunkelheit floh, und sie rief sterbend immer wieder nach ihm, rief Vogel und Bär und Fisch und Hase.
26
Am Ende schrie er kein Wort mehr, nicht einmal »nein«, er heulte wie ein waidwundes Tier, und seine Hände blieben mit der Kugel verschmolzen, die wie ein gehetztes Herz pochte. Er sah darin, wie sie verbrannte.
Cuthbert versuchte erneut, ihm das verfluchte Ding wegzunehmen, schaffte es aber wieder nicht. Da tat er das Einzige, was ihm noch einfiel – er zog den Revolver, richtete ihn auf die Kugel und spannte den Hahn. Wahrscheinlich würde er Roland verletzen, und die Glassplitter würden ihn möglicherweise sogar erblinden lassen, aber es gab keine andere Wahl. Wenn sie nichts unternahmen, würde
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