Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Strophe
J AKE UND C ALLAHAN
1
Don Callahan hatte oft davon geträumt, nach Amerika zurückzukehren. Diese Träume begannen im Allgemeinen damit, dass er unter einem hohen, heiteren Wüstenhimmel aufwachte, der voll von jenen Wattebauschwolken war, die Baseballspieler gern »Engel« nannten, oder im eigenen Bett im Pfarrhaus der Kleinstadt Jerusalem’s Lot, Maine. Unabhängig davon, an welchem Ort er sich wiederfand, war er jedes Mal von Erleichterung überwältigt und fühlte als Erstes den Drang zum Gebet. Oh, Gott sei Dank. Gott sei Dank, dass alles nur ein Traum war und ich endlich wieder wach bin.
Er war jetzt wach, ganz ohne Zweifel.
Callahan überschlug sich einmal in der Luft und sah Jake vor sich genau das Gleiche tun. Er hatte eine seiner Sandalen verloren. Er konnte Oy kläffen und Eddie lautstark protestieren hören. Er konnte Taxis hupen hören, diese erhabene New Yorker Straßenmusik, und dazu noch etwas anderes: einen Prediger. Seiner Stimme nach mächtig in Fahrt. Mindestens im dritten Gang. Möglicherweise im Overdrive.
Callahan streifte beim Hindurchfliegen mit dem Fußknöchel die Seite der nichtgefundenen Tür, sodass ihn ein grässlicher Schmerz durchzuckte. Dann wurde der Knöchel (mitsamt seiner näheren Umgebung) taub. Das Glockenspiel beim Flitzen erklang so beschleunigt, als spielte man eine Schallplatte statt mit 33 1 / 3 mit 45 Umdrehungen ab. Er wurde von einem ganzen Bündel gegensätzlicher Luftströmungen getroffen und roch plötzlich statt der feuchten Luft der Torweghöhle Benzindämpfe und Auspuffgase. Erst Straßenmusik; jetzt Straßendüfte.
Einen Augenblick lang gab es zwei Prediger: Henchick, der hinter Callahan »Sehet! Die Tür öffnet sich!« röhrte, und einen zweiten, der vor ihm »Sag GOTT, Brother, ganz genau, sag GOTT auf der Second Avenue!« plärrte.
Noch mehr Zwillinge, dachte Callahan – dafür reichte die Zeit noch –, dann fiel die Tür hinter ihm krachend zu, und der einzige Gott-Rufer war der auf der Second Avenue. Callahan konnte auch noch Willkommen zu Hause, du Hundesohn, willkommen daheim in Amerika denken, und dann landete er.
2
Es war kein totaler Absturz, aber er landete dennoch heftig auf Händen und Knien. Seine Jeans schützten letztere Körperteile bis zu einem gewissen Grad (obwohl sie dabei zerrissen), aber der Gehsteig schürfte, so glaubte er, mindestens einen halben Hektar Haut von seinen Handflächen ab. Er hörte die Rose, die machtvoll und ungestört sang.
Callahan wälzte sich auf den Rücken und sah, vor Schmerz knurrend, zum Himmel auf, während er die blutenden, brennenden Hände vors Gesicht schlug. Ein Tropfen Blut der linken Hand klatschte ihm wie eine Träne auf die Wange.
»Wo zum Teufel sind denn Sie hergekommen, mein Freund?«, fragte ein verblüffter Schwarzer, der einen grauen Arbeitsanzug trug. Der Mann schien der einzige Augenzeuge von Don Callahans dramatischer Rückkehr nach Amerika gewesen zu sein. Er starrte den vor ihm auf dem Gehsteig Liegenden mit großen Augen an.
»Oz«, sagte Callahan und setzte sich auf.
Die Hände brannten wie Feuer, und nun meldete sich auch der Knöchel wieder, beschwerte sich mit lauten Jaul-jaul-jaul- Schmerzstichen, die exakt mit seinem erhöhten Puls synchronisiert waren. »Weitergehen, Mann! Verschwinden Sie! Mir fehlt nichts, also ziehen Sie Leine!«
»Wie Sie meinen, Brother. Bis später.«
Der Mann in dem grauen Arbeitsanzug – ein Raumpfleger, dessen Schicht eben zu Ende gegangen war, wie Callahan vermutete – begann weiterzugehen. Er bedachte Callahan mit einem letzten Blick – noch immer verblüfft, aber schon mit leisen Zweifeln daran, was er gesehen hatte – und machte dann einen Bogen um die kleine Menge, die dem Prediger zuhörte. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Callahan rappelte sich auf, stand auf einer der zur Hammarskjöld Plaza hinaufführenden Stufen und hielt Ausschau nach Jake. Der Junge war nirgends zu sehen. Dann sah er sich nach der nichtgefundenen Tür um, aber die war ebenfalls verschwunden.
»Nun hört mir zu, meine Freunde! Hört zu, ich sage Gott, ich sage Gottes Liebe, ich sage, lasst mich ein Halleluja hören!«
»Halleluja«, sagte jemand aus der Zuhörerschaft des Straßenpredigers, aber es klang nicht allzu überzeugt.
»Ich sage amen, danke Ihnen, Bruder! Nun hört mir zu, denn Amerika wird gegenwärtig AUF DIE PROBE GESTELLT, und Amerika VERSAGT dabei! Dieses Land braucht eine BOMBE, keine A-tohm-bombe,
Weitere Kostenlose Bücher