Der Dunkle Turm 6 - Susannah
nicht. Ehrlich, mir hat noch nie jemand die Stiefel geleckt. Kannst du dir das vorstellen? So lange gelebt zu haben, wie ich’s getan habe, ohne ein einziges Mal auf gute altmodische Weise die Stiefel geleckt zu bekommen?«
Irgendwo kicherte eine Frau.
Mia beugte sich nach vorn.
Nein, Mia, das darfst du nicht, ächzte Susannah, aber Mia antwortete nicht darauf. Sie ließ sich auch nicht durch die lähmenden Schmerzen tief in ihren Eingeweiden aufhalten. Sie streckte die Zunge zwischen den Lippen hervor und begann die raue Oberseite von Richard P. Sayres Stiefeln zu lecken. Susannah glaubte, sie wie aus weiter Ferne schmecken zu können. Es war ein kräftiger, staubiger Ledergeschmack voller Reue und Erniedrigung.
Sayre ließ sie eine Zeit lang gewähren, dann sagte er: »Schluss jetzt. Genug.«
Er zog sie unsanft hoch und brachte sein nicht lächelndes Gesicht bis auf eine Handbreit an ihres heran. Nachdem sie einmal eine Maske entdeckt hatte, war es unmöglich, die Masken zu übersehen, die er und alle anderen trugen. Seine straffen Wangen waren fast durchsichtig, und unter der Maske waren dunkel scharlachrote Haarwirbel sichtbar.
Möglicherweise sagte man ja auch Fell dazu, wenn das Haar das ganze Gesicht bedeckte.
»Deine Bettelei macht dir keine Ehre«, sagte er, »obwohl ich gestehen muss, dass das Gefühl sensationell war.«
»Sie haben’s versprochen!«, rief Mia und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden und zurückzuweichen. Dann schlugen neue Wehen zu, und sie krümmte sich zusammen und konnte nur noch versuchen, nicht laut zu kreischen. Sobald der Schmerz etwas nachließ, fasste sie nach: »Sie haben fünf Jahre gesagt… oder vielleicht sieben… ja, sieben… Von allem nur das Beste für meinen kleinen Kerl, haben Sie gesagt…«
»Ja«, sagte Sayre. »Daran erinnere ich mich irgendwie, Mia.« Er runzelte die Stirn wie jemand, der mit einem besonders heiklen Problem befasst war, aber dann hellte seine Miene sich auf. Als er jetzt lächelte, glitt seine Maske für einen Augenblick am linken Mundwinkel nach oben und ließ einen gelblichen Raffzahn sehen, der zwischen Unter- und Oberlippe hervorwuchs. Er ließ einen ihrer Arme los, um mit Pädagogengeste den Zeigefinger zu heben. »Von allem nur das Beste, ja. Die Frage ist nur: Erfüllst du diese speziellen Anforderungen denn auch?«
Beifälliges halblautes Lachen begrüßte diese witzige Bemerkung. Mia erinnerte sich daran, dass diese Wesen sie Mutter genannt und mit Heil! begrüßt hatten. Aber das schien jetzt so weit zurückzuliegen wie ein bedeutungsloses Traumfragment.
Aber du warst gut genug, um ihn auszutragen, was?, fragte Detta tief aus ihrem Inneren – sozusagen aus dem Kerker. Aber hoppla! Dafür warst du gut genug, klar!
»Ich war gut genug, um ihn auszutragen, was?« Mia fauchte ihn geradezu an. »Gut genug, um die andere in den Sumpf zu schicken, damit sie Frösche verschlingt und dabei die ganze Zeit glaubt, es sei Kaviar… dafür war ich gut genug, hab ich Recht?«
Sayre blinzelte, war von dieser lebhaften Reaktion sichtlich verblüfft.
Mia wurde wieder sanfter. »Sai, bedenken Sie, was ich alles aufgegeben habe!«
»Pah, du hattest nichts«, wehrte Sayre ab. »Was warst du schon außer einem bedeutungslosen Geisterwesen, dessen Existenz sich um nichts anderes gedreht hat, als gelegentlich einen Satteltramp zu ficken? Luder der Winde, ist das nicht Rolands Bezeichnung für euresgleichen?«
»Dann denken Sie an die andere«, sagte Mia. »Die andere, die sich Susannah nennt. Ich habe ihr ganzes Leben und ihr Lebensziel für meinen kleinen Kerl gestohlen – alles auf Ihr Geheiß.«
Sayre machte eine abschätzige Handbewegung. »Dein Mund macht dir keine Ehre, Mia. Halt ihn deshalb lieber.«
Er nickte nach links. Ein niederer Mann mit breitem Bulldoggengesicht und üppiger grauer Lockenmähne trat vor. Das rote Loch in seiner Stirn wirkte eigenartig fernöstlich geschlitzt. Hinter ihm kam ein weiterer Vogelmensch, dieser mit grimmigem dunkelbraunem Habichtkopf, der aus dem runden Halsausschnitt eines T-Shirts mit dem Aufdruck DUTCH BLUE DEVILS ragte. Die beiden packten Mia. Der Griff des Vogelmenschen war widerlich – schuppig und fremdartig.
»Du warst eine ausgezeichnete Leihmutter«, sagte Sayre, »darauf können wir uns sicherlich einigen. Aber wir müssen auch daran denken, dass es Roland von Gileads Liebchen war, mit dem er das Kind tatsächlich gezeugt hat, nicht wahr?«
»Das ist gelogen!’«, schrie sie.
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