Der Dunkle Turm 6 - Susannah
»Oh, das ist eine dreckige… LÜGE!«
Er sprach weiter, als hätte er nichts gehört. »Und unterschiedliche Aufgaben erfordern eben unterschiedliche Fähigkeiten. Eines schickt sich nicht für alle, wie man sagt.«
»BITTE!«, schrie Mia.
Der Habichtmann schlug seine Krallenhände an den Kopf und wiegte ihn von einer Seite zur anderen, als hätte er gerade einen Gehörschaden erlitten. Diese witzige Pantomime löste Gelächter und sogar ein paar Beifallsrufe aus.
Susannah nahm undeutlich etwas Warmes wahr, das ihre Beine – Mias Beine – hinunterlief, und sah, dass ihre Jeans im Schritt und an den Oberschenkeln dunkel wurden. Die Fruchtblase war geplatzt.
»Also lo-ooo-oos… wir wollen ein BABY!«, rief Sayre mit der gespielten Aufregung eines Quizmasters. Bei seinem Lächeln ließ er viel zu viele Zähne sehen: unten und oben je eine doppelte Reihe. »Danach sehen wir weiter. Ich verspreche dir, dass deine Bitte in Betracht gezogen werden wird. Bis dahin jedoch… Heil, Mia! Heil, Mutter!«
»Heil, Mia! Heil, Mutter!«, riefen die anderen, und Mia wurde plötzlich in den Hintergrund des Raums befördert, indem der niedere Mann mit dem Bulldoggengesicht sie am linken Arm zerrte und der Habichtmann den rechten umklammert hielt. Bei jedem Ausatmen ließ der Habichtmann ein leises, widerliches Summen hören. Sie berührte mit den Füßen kaum den Teppich, als sie zu dem Vogelmenschen mit dem gelben Gefieder – Kanarienmann, so nannte sie ihn bei sich – geschleppt wurde.
Sayre brachte die drei mit einer knappen Handbewegung zum Stehen und sprach mit dem Kanarienmann, wobei er auf die Tür zur Straße zeigte. Mia hörte Rolands Namen und auch Jakes. Der Vogelmensch nickte. Sayre deutete wieder nachdrücklich auf die Tür und schüttelte den Kopf. Dort kommt keiner rein, besagte dieses Kopfschütteln. Keiner!
Der Kanarienmann nickte wieder und sprach dann in summenden Tschilplauten, bei denen Mia am liebsten losgekreischt hätte. Sie sah weg, und dabei fiel ihr Blick auf den Gobelin mit den Rittern und ihren Fräulein. Sie saßen an einer Tafel, die sie erkannte – es war die im Bankettsaal von Schloss Discordia. Arthur Eld saß mit seiner Krone auf dem Haupt und der ihm angetrauten Frau zu seiner Rechten am Kopfende der Tafel. Und seine Augen leuchteten in dem Blau, das sie aus ihren Träumen kannte.
Vielleicht hatte das Ka diesen Augenblick gewählt, um einen fehlgeleiteten Luftzug durch den Speisesaal im Dixie Pig wehen und ihn den Gobelin zur Seite blasen zu lassen. Er hielt nur ein, zwei Sekunden an, aber das reichte aus, um Mia sehen zu lassen, dass dahinter ein weiteres Speisezimmer – ein privates Speisezimmer – lag.
An einem langen Mahagonitisch unter einem hell brennenden Kristalllüster saßen etwa ein Dutzend Männer und Frauen, deren Schrumpfköpfe von Alter und Bösartigkeit runzlig und verzerrt waren. Ihre Lippen waren von großen lückenhaften Zahnreihen zurückgewichen; die Tage, in denen diese Ungeheuer ihre Münder hatten schließen können, lagen weit zurück. Ihre Augen, aus deren Winkeln irgendein widerliches teeriges Zeug sickerte, waren unergründlich schwarz. Ihre Haut war gelblich, schuppig mit Zähnen besetzt und stellenweise mit räudig aussehendem Pelz bestanden.
Was sind sie?, kreischte Mia. Was um aller Götter willen sind sie?
Mutanten, sagte Susannah. Oder vielleicht heißt die richtige Bezeichnung auch Hybriden. Aber sie ist unwichtig, Mia. Du hast gesehen, worauf es ankommt, stimmt’s?
Das hatte sie, das wusste Susannah. Obwohl der Samtvorhang nur kurz zur Seite geweht worden war, hatten sie beide den in der Tischmitte aufgebauten Grill sehen können – und den kopflosen Kadaver, der sich über der Glut drehte, die seine Haut braun und runzlig werden und leise zischend duftenden Bratensaft austreten ließ. Nein, der in der Luft hängende Geruch stammte nicht von einem Schweinebraten. Was sich dort braun wie ein Spanferkel am Spieß drehte, war ein Menschenbaby. Die um den Tisch versammelten Kreaturen tauchten dünne Porzellanbecher in die Fettpfanne, prosteten einander zu… und tranken.
Der Luftzug erstarb. Der Gobelin sank an seinen Platz zurück. Und bevor die kurz vor der Geburt stehende Frau wieder an den Armen gepackt und aus dem Speisesaal tiefer in dieses Gebäude geführt wurde, das viele Welten entlang dem Balken überspannte, erkannte sie den Witz dieser Darstellung. Es war kein Hühnerbein, das Arthur Eld zum Mund führte, wie man beim ersten
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