Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
ein ausgespartes Eckchen Papier war) ließ die Phantasie des Betrachters alles Übrige sehen und sogar den üblen Fäulnisgeruch wahrnehmen, der jedes Ausatmen begleiten würde. Auch das Haarbüschel, das sich aus einem Nasenloch des Königs kräuselte, und die dünne Linie einer gezackten Narbe, die sich wie ein Faden durch die rechte Augenbraue schlängelte, hatte Patrick perfekt dargestellt. Dies war eine wundervolle Arbeit, weit besser als das Porträt, das der stumme Junge von Susannah gezeichnet hatte. Und wie Patrick von jenem anderen Bild hatte ein Geschwür wegradieren können, würde er auf diesem bestimmt den Scharlachroten König ausradieren und nichts als das Balkongeländer vor ihm und die geschlossene Tür zum Rundbau des Turms hinter ihm zurücklassen können. Roland erwartete beinahe, den Scharlachroten König atmen und sich bewegen zu sehen, also war es bestimmt geschafft! Bestimmt …
Aber das war es nicht. Es genügte nicht, und selbst, dass er es wollte, machte es nicht ausreichend. Nicht einmal, dass er es brauchte, ließ es genügen.
Es liegt an den Augen, dachte Roland. Sie waren groß und schrecklich, die Augen eines Drachen in Menschengestalt. Sie waren trefflich dargestellt, aber sie waren nicht richtig. Roland empfand eine Art verzweifelter, elender Gewissheit und erschauderte von Kopf bis Fuß, heftig genug, um seine Zähne klappern zu lassen. Sie sind nicht ganz r …
Patrick fasste Roland am Ellbogen. Der Revolvermann hatte sich so verbissen auf die Zeichnung konzentriert, dass er bei dieser Berührung fast aufschrie. Jetzt hob er den Kopf. Patrick nickte ihm zu, dann berührte er mit zwei Fingern die inneren Winkel der eigenen Augen.
Ja. Seine Augen. Das weiß ich! Aber was ist falsch an ihnen?
Patrick berührte noch immer seine Augenwinkel. Über ihnen flogen Häher in einem ungeordneten Schwarm durch den Himmel, der bald mehr purpurrot als blau sein würde, und stießen dabei die heiseren Schreie aus, denen sie ihren Namen verdankten. Sie flogen zum Dunklen Turm, und Roland erhob sich, um ihnen zu folgen, weil er ihnen nicht gönnte, was er selbst nicht haben konnte.
Patrick bekam seinen Ledermantel zu fassen und zog ihn daran zurück. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und zeigte diesmal auf die Straße.
»DAS HABE ICH GESEHEN, ROLAND!«, erklang der Schrei. »WAS FÜR DIE VÖGEL GUT GENUG IST, IST AUCH FÜR DICH GUT GENUG, GLAUBST DU, NICHT WAHR? IIIIIIIII! UND DAS STIMMT AUCH, SICHER! SICHER WIE ZUCKER, SICHER WIE SALZ, SICHER WIE DIE RUBINE IN KÖNIG DANDOS SCHATZKAMMER – IIIIIIII, HA! ICH HÄTTE DICH EBEN UMLEGEN KÖNNEN, ABER WOZU SOLLTE ICH MIR DIE MÜHE MACHEN? ICH GLAUBE, ICH WILL LIEBER SEHEN, WIE DU ZUM TURM KOMMST – PISSEND UND ZITTERND UND AUSSERSTANDE, DICH SELBST DARAN ZU HINDERN!«
Das werde ich, dachte Roland. Ich werde mich nicht dagegen wehren können. Vielleicht halte ich noch weitere zehn Minuten aus, vielleicht sogar noch zwanzig, aber letzten Endes …
Patrick unterbrach seinen Gedankengang, indem er nochmals auf die Straße zeigte. In die Richtung wies, aus der sie gekommen waren.
Roland schüttelte müde den Kopf. »Selbst wenn ich der Anziehungskraft des Ungeheuers widerstehen könnte – und das könnte ich nicht, ich kann nur mit knapper Not hier verharren –, würde ein Rückzug uns nichts nutzen. Sobald wir nicht mehr in Deckung sind, setzt er ein, was er bisher zurückgehalten hat. Er hat irgendwas in der Hinterhand, dessen bin ich mir sicher. Und was es auch sein mag, es ist wahrscheinlich gegen die Kugeln meines Revolvers gefeit.«
Patrick schüttelte so heftig den Kopf, dass sein langes Haar von einer Seite zur anderen flog. Der Griff, mit dem er Rolands Arm gepackt hielt, verstärkte sich, bis die Fingernägel des Jungen sich selbst durch drei Lederschichten hindurch ins Fleisch des Revolvermanns bohrten. Seine Augen, sonst immer sanft und meistens leicht verwirrt, starrten Roland fast wütend an. Er deutete nochmals mit der freien Hand – drei rasche, zustoßende Bewegungen mit einem schmutzigen Zeigefinger. Aber nicht auf die Straße.
Patrick zeigte auf die Rosen.
»Was ist mit ihnen?«, fragte Roland. »Patrick, was ist mit ihnen?«
Diesmal zeigte Patrick auf die Rosen, dann auf die Augen des Porträtierten.
Und diesmal verstand Roland.
9
Patrick wollte sie nicht holen. Als Roland ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte, schüttelte der Junge sofort mit erschrocken aufgerissenen Augen den Kopf, dass seine
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