Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
doch. Jake sagte sich, daß das in Träumen immer so war, aber dies hier schien irgendwie gar kein Traum zu sein.
Was mich anbelangt, ich bin nicht besonders wichtig, sagte der Junge. Er warf den Basketball über die Schulter. Dieser stieg in die Höhe und fiel sauber durch den Reif. Ich soll dich führen, das ist alles. Ich führe dich dorthin, wo du hingehen mußt, und ich zeige dir, was du sehen mußt, aber du mußt vorsichtig sein, weil ich dich nicht kenne. Und Fremde machen Henry nervös. Er kann gemein werden, wenn er nervös ist, und Henry ist größer als du.
Wer ist Henry? fragte Jake.
Vergiß es. Sieh nur zu, daß er dich nicht bemerkt. Du mußt nur in der Nähe bleiben… und uns folgen. Und wenn wir gehen…
Der Junge sah Jake an. Mitleid und Angst sprachen aus seinen Augen. Jake stellte plötzlich fest, daß der Junge allmählich verblasste – er konnte die schwarzen und gelben Streifen des Kioskes durch das gelbe T-Shirt des Jungen erkennen.
Wie werde ich dich finden? Plötzlich hatte Jake große Angst, der Junge könnte völlig verschwinden, bevor er Jake alles sagen konnte, was er wissen mußte.
Kein Problem, sagte der Junge. Seine Stimme hatte einen seltsam klirrenden Unterton angenommen. Fahr einfach mit der U-Bahn nach Co-Op City. Du wirst mich finden.
Nein, unmöglich! rief Jake. Co-Op City ist riesig! Dort müssen hunderttausend Menschen wohnen!
Jetzt war der Junge nur noch ein verschwommener Umriß. Nur seine haselnußbraunen Augen waren noch ganz da, wie das Grinsen der Cheshire-Katze in Alice im Wunderland. Sie sahen Jake voll Mitgefühl und Furcht an. Null Problemo, sagte er. Du hast den Schlüssel und die Rose gefunden, oder nicht? Mich wirst du auf dieselbe Weise finden. Heute nachmittag, Jake. Gegen drei Uhr müßte gut sein. Du mußt vorsichtig sein, und du mußt schnell sein. Er verstummte – ein geisterhafter Junge, der einen alten Basketball neben dem durchsichtigen Fuß liegen hatte. Ich muß gehen… aber es war schön, dich kennenzulernen. Du scheinst ein netter Junge zu sein, und es überrascht mich nicht, daß er dich gern hat. Aber es besteht Gefahr. Sei vorsichtig… und sei schnell.
Warte! rief Jake und rannte über das Basketballfeld auf den verblassenden Jungen zu. Mit einem Fuß stolperte er über einen Mechanismus, der wie ein zerdepperter Spielzeugtraktor aussah. Er stolperte, fiel auf die Knie und riß sich die Hose auf. Er achtete nicht auf den leichten Schmerz. Warte! Du mußt mir sagen, was das alles zu bedeuten hat! Du mußt mir sagen, warum mir das alles zustößt!
Wegen des Balkens, antwortete der Junge, der jetzt nur noch aus einem schwebenden Augenpaar bestand, und wegen des Turms. Letztendlich dient alles, auch die Balken, dem Dunklen Turm. Hast du gedacht, bei dir wäre das anders?
Jake ruderte mit den Armen und stand stolpernd auf. Werde ich ihn finden? Werde ich den Revolvermann finden?
Ich weiß nicht, antwortete der Junge. Seine Stimme schien jetzt aus einer Entfernung von Millionen Meilen zu kommen. Ich weiß nur, daß du es versuchen mußt. Diesbezüglich hast du keine andere Wahl.
Der Junge war fort. Das Basketballfeld im Wald war verlassen. Nur das leise Dröhnen der Maschinen war noch zu hören, und das gefiel Jake nicht. Mit diesem Geräusch stimmte etwas nicht, und er dachte, was mit der Maschine nicht in Ordnung war, beeinträchtigte auch die Rose – oder umgekehrt. Alles hing irgendwie zusammen.
Er hob den alten, staubigen Basketball auf und warf. Der Ball fiel durch den Korb… und verschwand.
Ein Fluß, seufzte die Stimme des fremden Jungen. Sie war wie der Hauch einer Brise. Sie kam von überall und nirgends. Die Antwort ist ein Fluß.
4
Jake wachte im ersten trüben Licht der Dämmerung auf und sah zur Decke seines Zimmers. Er mußte an den Mann im Manhattan-Restaurant für geistige Nahrung denken – Aaron Deepneau, der auf der Bleeker Street herumgehangen hatte, als Bob Dylan noch kaum wußte, wie er einen offenen G-Dur-Akkord auf seiner Hohner spielen sollte. Aaron Deepneau hatte Jake ein Rätsel aufgegeben.
Was bewegt sich und kommt nicht fort,
Hat einen Mund und spricht kein Wort,
Hat ein Bett und kann doch nicht schlafen,
Und birgt für manchen einen sicheren Hafen?
Jetzt kannte er die Antwort. Ein Fluß bewegte sich – er strömte; ein Fluß hatte einen Mund, besser gesagt, eine Mündung; ein Fluß hatte auch ein Bett; und ein Fluß barg gewiß auch einen sicheren Hafen. Der Junge hatte ihm
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