Der Eden Effekt
Platz gegenüber von Harry. »Puh! Was für ein Tag!«
Mark schätzte den Mann mit dem grauen Haar und dem Schnurrbart auf Mitte fünfzig. Rau trug eine Motorradhose, Stiefel und ein Sweatshirt mit der Aufschrift: Alpen Motorcycle Tours. Er hatte Falten im Gesicht, ein festes Kinn, eine große Nase und funkelnde blaue Augen. In seinen gepflegt aussehenden Händen hielt er eine Tasse Kaffee.
»Hast du eine große Tour gemacht?«, fragte Rau. »Wo bist du gestartet?«
»In Venedig.«
»Hast du dir die Sehenswürdigkeiten angesehen? Ich persönlich liebe die Dolomiten.« Raus nachdenklicher Blick wanderte über Marks feine Hose und das Button-Down-Hemd. »Ist es nicht zu kalt in den Klamotten?«
Mark lächelte verlegen. »Dieses Motorrad ... Es war nicht gerade das Cleverste, was ich jemals gemacht habe.«
»Was fährst du sonst für eine Maschine?«
»Gar keine. Das war meine erste Tour.«
Rau runzelte die Stirn. »Wie jetzt? Du hast beschlossen, dich gleich bei deiner ersten Tour auf eine 1198er zu setzen? Hast du Todessehnsucht?«
Später schrieb Mark es dem Stress zu, unter dem er stand. Jedenfalls brach er in ein hysterisches Lachen aus. Nach dem Lachkrampf war er erschöpft und hatte Tränen in den Augen. Er rang nach Atem und stammelte: »Nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, könnte man es fast meinen.«
Rau, der ab und zu einen Schluck aus seiner Tasse trank, beobachtete ihn amüsiert. »Lass mich raten. Du hast gerade eine Beziehung beendet, die nicht mehr richtig lief?«
Mark kämpfte gegen den nächsten Lachkrampf an, der ihn zu überwältigen drohte. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Also hast du beschlossen, nach Italien zu fahren, dir eines der schnellsten und teuflischsten Motorräder auf Erden zu leihen und dein Glück zu versuchen, hm?«
Mark rieb sich die Augen und nickte. »Im Grunde hast du recht. Ja, das ist ungefähr die Kurzfassung.«
»Ich glaube, ich kann es mir vorstellen.«
»Offensichtlich«, murmelte Mark. Er nahm die Speisekarte in die Hand und überflog sie. »Jetzt sitze ich in dieser Kneipe und weiß überhaupt nicht, was ich hier mache und wohin ich fahren soll.«
»Wie heißt du?«
»Brian«, erwiderte Mark intuitiv. »Brian Meyer. Früher habe ich an der Highschool Sozialkunde unterrichtet. In Iowa. Später dann weiter im Westen in Colorado. Und du?«
»Auspuffanlagen. Für Autos. Insgesamt gehören zu meinem Unternehmen acht Geschäfte in Columbus und Dayton. Inzwischen arbeite ich hauptsächlich, um mein Hobby zu finanzieren.«
»Und was ist das?«
»Motorräder.« Rau grinste. »Ich habe eine ganze Garage voll davon. Und außerdem gebe ich Sicherheitstraining für Anfänger.«
»Ach ja?«
»Wir bringen Anfängern bei, wie man Freude an diesem Sport hat, ohne gleich in der Notaufnahme zu landen, was dir schnell passieren könnte. Du hast dir die falsche Maschine ausgesucht.«
»Ja, das Ding reagiert, als wäre es vom Teufel besessen. Aber man könnte sagen, ich hatte keine andere Wahl.«
»Wo willst du heute noch hin?« »Ich? Keine Ahnung.«
Hier hat Mark also gewohnt . Der Gedanke daran vertrieb Anikas Angst nicht. Mit langsamen Schritten ging sie durch die luxuriös eingerichtete Wohnung Nummer 3 in Oberau und schaute durch das Fenster des Arbeitszimmers auf das große Herrschaftshaus unten und die Alpen dahinter.
Anika, die auf einer Ranch in Wyoming aufgewachsen war, fehlte die Fantasie, sich so etwas überhaupt vorzustellen. Aber da sie Mark kannte, wusste sie, dass ihn die Möbel, die holografische Wand und der Whirlpool sicherlich fasziniert hatten. Sie hatten alle seine Schwächen erkannt und sie mit der Kunstfertigkeit eines Geigenvirtuosen ausgenutzt.
Und ich? Sie hatte fast die ganze Nacht wach gelegen, angestrengt nachgedacht, Fakten rekapituliert und analysiert.
Stephanie hatte ihr das Sicherheitskonzept des Komplexes ausführlich erklärt und betont, dass eine Flucht vollkommen aussichtslos sei.
»Hab’s verstanden«, murmelte Anika zu sich selbst. Stephanie schien der Gedanke an eine mögliche Flucht dennoch zu beunruhigen, wie ihr langer Vortrag bewiesen hatte. Kein Wunder, denn schließlich war Mark entführt worden. Ihr zweites Ziel würde es sein, Anika davon zu überzeugen, dass eine Rettung in weiter Ferne lag und es besser wäre, sich in das Unvermeidliche zu fügen.
»Eines Tages dürfen Sie wieder nach Hause zurückkehren«, hatte Stephanie ihr versichert, während sie ihr eine farblose Flüssigkeit zu trinken gab
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