Der Effekt - Roman
lassen. Alle kommen hin, und die Hotelleitung hat versprochen, dass es hinterher Freigetränke gibt. Um unsere Moral zu stützen. Ich könnte ein neues Kleid dafür anziehen. Allerdings müsste ich mir erst eins kaufen.«
Jeder andere Mann wäre bei einem derart leeren Geschwätz wahrscheinlich an die Decke gegangen, aber Culver lächelte nachsichtig. Die Ausgangssperre auf der Insel war gelockert worden, damit die Menschen sich mit Vorräten eindecken konnten. Trotzdem fragte er sich, ob Marilyn eine Mode-Boutique finden würde, die noch geöffnet hatte oder die ihre Kreditkarte akzeptierte. Andererseits, so wie er sie kannte, würde ihr die Suche nach einem Laden wahrscheinlich Spaß machen.
»Du machst dich schick, Liebling, und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um heute Abend beim Konzert dabei zu sein.«
Er küsste Marilyn auf die Stirn und ging zum Fenster. Draußen erstrahlte alles im Glanz der Morgensonne, und Culver schaute hinaus in der Hoffnung, irgendwo dort unten am Strand, zwischen all den anderen, seine Kinder zu entdecken. Eine kräftige Brise trieb hohe, gleichmäßige Wellen an den Strand. Sie mussten zwischen all den anderen sein, die sich dort unten in der Brandung tummelten und dadurch ein wenig Abwechslung von der traurigen Wirklichkeit fanden. Offenbar hatten sie wirklich Spaß dort unten, und er sandte ein stilles Gebet zu Gott. Vor allem war er froh, dass seine Tochter neue Freunde gefunden hatte, was ihr den Verlust der anderen vielleicht etwas erleichtern würde.
Das Gesicht des Admirals war vom Bildschirm verschwunden. An seine Stelle war ein gut aussehender, aber gequält dreinblickender Mann mittleren Alters getreten, der ein
weißes Hemd mit grellgelber Krawatte trug. Er stand in einem Raum, der anscheinend zu einer Bank oder einer Investmentfirma gehörte, und sprach mit einem breiten Ost-Londoner Akzent, der schwer zu verstehen war. Die Worte, die er in den Mund nahm, ließen alle Alarmglocken schrillen: »Zusammenbruch … Krise … Kreditschock … Kollaps des Marktes …« Ein Ticker unterhalb des Bildes verbreitete weitere Katastrophenmeldungen. Aus dem Süden des Libanon waren massenweise Raketen auf Israel abgefeuert worden. Israel hatte »präventiv« einige Ziele in Syrien, dem Iran und in Ägypten angegriffen. Der amerikanische Zerstörer USS Hopper war von einem Rudel Selbstmordattentäter der Hamas auf Jet-Skiern angegriffen worden. In Berlin war es zu Straßenschlachten gekommen. Jugendunruhen in Paris. Immer mehr Boote suchten Schutz in der Bucht von Guantánamo. In sechs chinesischen Provinzen war das Kriegsrecht ausgerufen worden. In der Biscaya formierte sich ein giftiger Orkan.
Es war ganz offensichtlich, was die Menschen dort unten am Strand taten, dachte Culver, sie ignorierten ganz einfach das Ende der Welt.
»Tschüss, Liebling«, sagte er zu Marilyn, als er nach seiner Aktentasche griff und sie ein weiteres Mal auf die Stirn küsste.
»Okay, dann bis später«, sagte sie und überraschte ihn mit einer heftigen Umarmung, die ihn trotz seiner massigen Gestalt beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Als sie sich voneinander trennten, schaute sie ihn ängstlich an. »Wird denn alles wieder gut werden?«
Das war eine von diesen Fragen, die nicht ernst gemeint sein konnten.
»Na klar, Liebling. Alles wird wieder gut.«
Und damit sagte er sogar fast die Wahrheit. Für ihn und seine Familie würde die Zukunft wahrscheinlich wesentlich besser aussehen als für die meisten anderen Überlebenden,
denn Jed Culver hatte sich einer völlig überforderten Administration angedient und alle dort Beschäftigten mit seinen enormen Fähigkeiten beim Krisenmanagement und der Organisation von Kontakten zwischen zivilen und militärischen Behörden beeindruckt, beides Fachgebiete, mit denen er bislang überhaupt noch nichts zu tun gehabt hatte. Aber das war egal. Niemand würde nachschauen, ob er für das, was er tat, auch genügend qualifiziert war. Wer sich seinen bisherigen bunt schillernden Lebenslauf anschaute, wäre ohnehin schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass es niemanden gab, der besser dafür geeignet war, schwierige Situationen in den Griff zu bekommen als er.
Er selbst konnte sich auch niemand Besseren vorstellen als sich selbst, wenn es darum ging, glühende Kohlen aus dem Feuer zu holen, ohne dabei in Heulen und Zähneklappern zu verfallen. Und wenn er im Gegenzug erreichte, dass man sich um seine Familie besonders kümmerte, wenn er dafür
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