Der Effekt - Roman
Sie sich unwohl? Irgendwas?«, fragte er auf Französisch und schaute dabei auf seine Uhr, als sei sie das interessanteste Schmuckstück der ganzen Welt.
»Ja, Doktor«, erwiderte sie ebenfalls auf Französisch. »Wenn ich den Kopf drehe, tut mir der Hals weh, und es fühlt sich an wie …«
Sie hielt inne, als sie den überaus erstaunten Gesichtsausdruck von Monique bemerkte, die ganz offensichtlich bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass sie Französisch beherrschte.
Mist.
»Ja?«, fragte er wieder auf Französisch. »Es fühlt sich an wie was?«
»Mein Hals ist sehr steif und schmerzt«, sagte sie langsam auf Englisch. »Es tut sehr weh, wenn ich ihn drehen will, es ist sehr schlimm. Außerdem habe ich schreckliche Kopfschmerzen die ganze Zeit über.«
Monique ließ ihre Hand los. Die junge Frau starrte sie an wie vom Donner gerührt. Die anderen schauten immer noch gebannt auf die BBC-Nachrichten. Dort waren jetzt noch mehr Bilder von kommerziellen Satelliten zu sehen, die verschiedenste Regionen von Nordamerika zeigten, von Minute zu Minute wurden es mehr. Fünfundvierzig Minuten nachdem auf den Bildschirmen ein weißes Rauschen erschienen war und alle Kommunikationsverbindungen mit der reichsten und mächtigsten Nation der Welt und großen Teilen der angrenzenden Länder unterbrochen hatte, war die Wahrheit nicht mehr zu leugnen. Sie waren alle verschwunden.
Caitlin war in einer Art kafkaeskem Alptraum erwacht, und eine Weile versuchte sie sich an die Hoffnung zu klammern, dass dies wirklich nur ein Traum war oder vielleicht die Folge eines psychischen Zusammenbruchs nach einer Gehirnverletzung.
»Aber du hast uns doch gesagt, du kannst kein Französisch«, sagte Monique.
»Verdammt, jetzt seht euch das an.«
»Frau Mercure, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie …«
Dr. Colbert schaute wieder mechanisch auf seine Uhr.
Genau so sieht’s aus, du Schlaumeier, dachte Caitlin.
Monique war, wie der Arzt, völlig in ihrer eigenen Welt gefangen.
»Aber du hast uns wirklich gesagt, du kannst überhaupt nicht Französisch sprechen.«
Caitlin starrte sie an, während sie gleichzeitig das Gefühl hatte, ihre Welt zerbreche in tausend Teile, teils Wirklichkeit, teils Wahn. Sie bemühte sich, so gut wie möglich zu improvisieren.
»Ich spreche es nicht sehr gut. Es ist mir peinlich, wenn ich es überhaupt versuche. Ihr Franzosen seid immer so streng mit eurer Sprache und kritisiert jeden, der etwas
falsch ausspricht, es wäre viel leichter, wenn ihr es ein bisschen lockerer sehen würdet.«
Der Arzt rettete sie, indem er sie unterbrach und sich in Englisch an sie wandte.
»Entschuldigen Sie bitte, aber meine Patientin ist sehr krank. Sie können sie jetzt nicht mit Fragen bombardieren. Es ist jetzt …«
»Scheiße, sieh mal …«
Tante Celias besonders lauter Ausruf bewirkte, dass alle sich wieder dem Fernsehbildschirm zuwandten, wo gerade eine Aufnahme von Manhattan aus der Vogelperspektive gezeigt wurde. Caitlin glaubte einen Moment lang, es seien Archivaufnahmen des 11. September. Dicke schwarze Rauchschwaden stiegen von zerstörten Hochhäusern auf, die aussahen wie gerade ausgebrochene Vulkane. Aber sehr schnell wurde ihr klar, dass es viel zu viele zerstörte Wolkenkratzer waren und sie sich über die ganze Halbinsel verteilten. Sie zählte mindestens acht oder neun davon.
»… ich wiederhole, die Anzahl der Toten im ganzen Land kann in die Millionen gehen«, las die Moderatorin vor.
»Alle sind weg«, sagte Maggie mit belegter Stimme. »Das ist ja Wahnsinn. Wohin sind die denn verschwunden?«
»… zu jedem beliebigen Zeitpunkt sind Tausende von Flugzeugen über den Vereinigten Staaten in der Luft, viele von ihnen überfliegen bewohnte Städte.«
Auf dem Bildschirm waren jetzt grobkörnige Videoaufnahmen von Wetterkameras zu sehen, die irgendwo über Manhattan installiert waren. Caitlin starrte die Bilder an und konnte nicht glauben, was sie da sah. Ein Passagierflugzeug der Singapore Airlines prallte gegen das Chrysler Building, einer seiner Flügel brach bei der Kollision ab und wirbelte durch die Luft.
Irgendetwas Wichtiges tauchte in ihrem Kopf auf, etwas, das sie beinahe schon vermisst hatte.
»Bin ich krank?«, fragte sie, um endlich auf die Aussagen des Arztes zu reagieren. »Bin ich krank oder einfach nur verletzt?«
Wenn sie krank wäre, hoffte sie ein wenig irrational, würde dies womöglich den ganzen Irrsinn erklären, der auf dem Fernsehbildschirm
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