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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Island war eine vornehme Wohngegend, und der Deerford Drive, der sich am Ufer des Sees den Groveland Park entlangzog, war eine der besten Adressen. Ehrlich gesagt war sie sogar ein wenig
zu teuer für Kipper, aber Barbaras Familie gehörte zu den besten von Manhattan - oder hatte dazu gehört - und war es gewohnt, sich in den gehobenen Kreisen zu bewegen.
    »Leute wie wir«, sagte sie gern und verzog dabei das Gesicht, weil sie wusste, dass Kipper sich unter Leuten, die gern mal laut grölend eine Wrestling-Show besuchten, viel wohler fühlte als unter hochgestochenen Opernliebhabern in Abendrobe, die sich in der Pause mit Sherry-Gläschen zuprosteten.
    Er fühlte sich noch schlechter, als er jetzt an ihre Familie dachte. Nach dem Verschwinden hatte sie eine ganze Nacht lang geweint und verzweifelt versucht, alle Nummern anzurufen, die sie an der Westküste kannte. Ihre Eltern, Geschwister, Onkeln, Tanten und Freunde waren alle nicht mehr da. Beinahe wäre Kipper umgedreht und ins Haus zurückgegangen, aber sein Pflichtbewusstsein siegte. Er musste dringend zur Arbeit.
    Die Straße sah traurig und verlassen aus. Die Umgebung war grau und leblos, die Bäume starben ab, die Grünflächen waren braun geworden, die Blumen verwelkt. Der Regen hatte den größten Teil des giftigen Niederschlags weggewaschen, aber schwarze, matschige Haufen schmieriger Asche hatten sich hier und da in Ecken angesammelt, neben Gullys, im Rinnstein, in Bodensenken und neben den Reifen geparkter Autos. Der Deerford Drive, der normalerweise von grünen Gärten begrenzt wurde, wirkte jetzt traurig und verwahrlost. Kipper fröstelte in der morgendlichen Kälte. Während der letzten Woche war es immer ungewöhnlich dunkel gewesen, die Sonne blieb verdeckt, aber schließlich waren die Überreste der hässlichen Schwaden vom Wind verweht worden. Zwar war es jetzt nicht gerade sonnig, aber wesentlich heller als vorher. Das würde aber bestimmt nicht so bleiben.
    Hunderte nordamerikanischer Städte waren in Flammen aufgegangen, der ganze Kontinent sonderte gigantische
Rauchschwaden ab, während die Feuersbrünste sich immer mehr ausweiteten und nichts sie aufhalten konnte, bis auf gelegentlich einsetzende Sprinkleranlagen. Er hatte Satellitenfotos darüber im Internet gesehen und auch in einer Fernsehsendung, bevor das Katastrophenschutzamt die TV-Kanäle übernommen hatte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er darauf gewettet, dass überall in den Vereinigten Staaten und Amerika, wo einmal Städte gewesen waren, riesige Vulkane ausgebrochen waren, deren Rauchschwaden träge in die Atmosphäre stiegen und vom Wind fortgetrieben wurden. Der Atlantische Ozean und der größte Teil von Europa waren bedeckt von Rauchwolken, die nach Osten über den Ural ziehen und nach ihrem Weg einmal rund um den Globus wieder hier an der Westküste ankommen würden.
    »Mr. Kipper! Mr. Kipper!«
    Die unerwarteten Rufe rüttelten ihn auf, und er setzte wieder sein Alltagsgesicht auf. Er kannte die Stimme nur zu gut. Es war Mrs. Heinemann, Hausnummer 43.
    »Ist es jetzt sicher? Kann man nach draußen gehen, Mr. Kipper?«
    »Das bleibt zu hoffen, Mrs. Heinemann. Sonst wären Sie jetzt in argen Schwierigkeiten, nicht wahr?«
    Mrs. Heinemann war eine kleine drahtige, alte Jungfer, die es nie verwunden hatte, keinen Mann abbekommen zu haben. Sie musste Ende fünfzig, Anfang sechzig sein, je nachdem, wie genau man ihre schönheitschirurgischen Operationen oder ihre vagen Angaben bezüglich des Geburtsjahres nahm. In der neuen Situation gefiel sie sich in der Rolle des selbst ernannten Blockwarts. Ohne Ehemann oder Kinder, die sie abgelenkt hätten, konnte sie sich voll und ganz den Problemen anderer Leute widmen - oder dem, was sie selbst als deren Probleme ansah.
    Obwohl nie verheiratet, legte sie Wert darauf, Mrs. Heinemann genannt zu werden. Wer nicht genügend Sensibilität
aufbrachte, lief Gefahr, sich eine Ohrfeige einzufangen, denn die Dame fühlte sich vom Schicksal schwer benachteiligt und fand es überaus ungerecht, dass andere, viel unwürdigere Frauen einen Mann abbekommen hatten, sie aber nicht. Sie trug einen grellgrünen und lachsfarbenen Jogginganzug, eine Duschkappe aus Plastik und hielt sich schützend ein Tuch vor den Mund, als sie ihm nun über die leicht abfallende Straße entgegenlief. Noch im Gehen begann sie ihn mit ihren Fragen und Problemen zu bombardieren.
    »Ich bin ja so froh, dass ich Sie treffe, Mr. Kipper. Seit einer Woche habe ich niemanden

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