Der Effekt - Roman
mehr getroffen. Es ist wirklich eine furchtbare Situation, wissen Sie. Und dann auch noch die Ausgangssperre. Ist es denn jetzt sicherer geworden? Darf man sich draußen bewegen? Ich habe nämlich nur noch wenig zu essen im Haus. Und den anderen geht es genauso. Zum Beispiel Mrs. Deever in Nummer 36 mit ihren zwei Kindern. Sie braucht ihren Zuteilungsschein. Und die kleine Jane in 29, das behinderte Mädchen, die braucht doch ihre Medikamente. Die Singnamichans, die große Hindu-Familie, Sie wissen schon, der Mann ist Microsoft-Manager, die können ja gar nichts mehr zu essen haben, so viele, wie das sind. Was soll man denn tun, Mr. Kipper? Was soll man tun?«
Sie war jetzt direkt vor ihm angekommen und plapperte ohne Unterlass. Er hatte keine Möglichkeit, etwas zu entgegnen oder fortzugehen. Nach der letzten Frage machte sie eine rhetorische Pause, die er nutzen konnte.
»Mrs. Heinemann«, sagte er energisch. »Sie müssen wieder ins Haus zurück. Wir haben weder die Qualität der Luft noch die des Wassers überprüfen können. Ich bin nur rausgegangen, weil ich zur Arbeit gehe. Sie müssen sofort wieder ins Haus, nur dort ist es sicher. Bitte gehen Sie. Jetzt gleich. Bleiben Sie nicht hier stehen. Und schleppen Sie nicht diesen Matsch ins Haus. Sie müssen sofort Ihre
Sachen ausziehen und alles in eine Tüte packen. Waschen Sie sich gründlich. Haben Sie noch Wasser? Gut. Dann gehen Sie bitte. Jetzt sofort!«
Er bemühte sich genauso schnell zu sprechen wie sie, um nicht unterbrochen zu werden, und gestikulierte, um sie in ihr Haus zurückzuscheuchen. Gleichzeitig schüttelte er den Kopf, um sie daran zu hindern, Einspruch zu erheben. Er merkte, wie an den Fenstern der anderen Häuser Vorhänge zur Seite geschoben wurden. Wichtig war jetzt, dass allen unmissverständlich klargemacht wurde, dass keiner das Haus verlassen durfte, bis es wirklich sicher war.
»Aber Mr. Kipper …«
»Nein! Gehen Sie jetzt bitte! Gehen Sie, Mrs. Heinemann. Sie haben kein Recht, sich hier draußen aufzuhalten. Gehen Sie und vergessen Sie nicht, sich zu dekontaminieren.«
Er fasste sie am Arm und schob sie auf ihre Haustür zu.
»Oje, ojemine«, murmelte sie vor sich hin, während sie nach Hause stolperte.
Kopfschüttelnd wandte er sich um, stieg in den Pick-up ein und klopfte sich sorgfältig den Schmutz von den Schuhen, damit alle sehen konnten, wie ernst er es meinte. In der Fahrerkabine war es kühl, und es roch noch immer nach dem McDonald’s Family-Menü, das er am ersten Tag der Katastrophe mit nach Hause gebracht hatte. Er hatte auch einen ganzen Berg Dosenobst und dreihundert Liter Trinkwasser in großen Plastikcontainern gekauft, aber das war’s dann auch schon mit dem Hamstern gewesen, denn er hatte sich natürlich gleich an den großen Vorrat an gefriergetrockneter, vakuumverpackter Nahrung erinnert, den er beim Ausverkauf eines Campingladens günstig erstanden hatte. Über dieses Schnäppchen machte Barbara sich jetzt nicht mehr lustig. Und irgendwann würde er sich wieder nach etwas Ähnlichem umschauen müssen.
Der Anlasser jaulte ein paarmal auf, bevor der Motor ansprang. Es klang viel lauter als früher, denn überall war es ungewöhnlich ruhig an diesem Morgen. Er warf einen Blick auf die Tankanzeige, um zu kontrollieren, ob jemand Benzin abgezapft hatte. Der Katastrophen-Ausschuss hatte den Verkauf von Benzin für »nicht-essenzielle Vorhaben« schon am zweiten Tag des Ausnahmezustands verhängt. Leider hatte man nicht genügend Polizisten gehabt - oder den politischen Willen -, dieses Verbot durchzusetzen, als Tausende von Menschen mit ihren Autos vor den Tankstellen Schlange gestanden hatten. Die Preise waren erheblich gestiegen. Als der Preis pro Liter auf über zehn Dollar kletterte, rückte die Army aus Fort Lewis an und brachte die Stadt unter ihre Kontrolle. Kaum waren die Straßen leergefegt, hatten schwarze Wolken sich über den Himmel geschoben, und der ätzende Regen war gefallen.
Der Tank in Kippers Pick-up war noch zu drei Vierteln gefüllt, und er würde problemlos noch mehr zugeteilt bekommen. Aber das dürfte sich bald ändern. Seit fünf Tagen waren keine Frachtflugzeuge mehr nach Seattle gekommen, und das würde auch in der nahen Zukunft nicht passieren. Hilfslieferungen kamen nur per Schiff an, Nahrungsmittel aus Australien und Neuseeland, ein Supertanker mit Öl aus Taiwan, noch mehr Nahrung und medizinische Ausrüstung und Medikamente aus Japan. Es reichte aus, um die Stadt am Leben
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