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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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Diskrepanz zwischen den schulischen Bedürfnissen der Bevölkerung, wie sie sich aus der Anzahl der Arbeiter ergab, die, wenn auch in der Umgebung verstreut, als ortsansässig angesehen werden konnten, und der tatsächlichen Größe dieser Bevölkerung – die viel kleiner sein konnte, sofern die Arbeiter tatsächlich weitgehend aus Dörfern kamen, die viel weiter oben am See lagen, und sofern sie ihre Familien zu Hause ließen. Die männliche Bevölkerung rund um den See führte traditionsgemäß ein Leben von Nomaden, das bis vor die Zeit der Besiedlung durch die Kolonialisten zurückreichte; sie waren dem Handel und den Fischen nachgezogen. Manchmal war es schwer festzustellen, zu welchem Dorf sie gehörten. Hätte man sie gefragt, so hätten sie – im Gegensatz zu anderen Gruppen, deren nähere Heimat in doppelter Hinsicht definiert war, zum einen durch Stammestradition, zum anderen durch das Bezirkssystem der Kolonialverwaltung – immer nur gesagt, »zum Wasser« – ein Terrain, dessen entfernteres Ende, weit oben in anderen Staatsgebieten Afrikas, sie noch nie gesehen hatten.
    Die Gefrierfischabteilung der Fabrik hatte die Leichenschauhausatmosphäre von Männern in Gummischürzen, die Betonböden abspritzten, und plötzlichen Erinnerungen an Blut und Eingeweide, die keine hygienische Maßnahme restlos beseitigen kann. Eine Minute lang unterhielt er sich mit dem weißen Manager, einem faltigen, verunstalteten und von der lebenslänglichen Arbeit in Jobs wie diesem rot angelaufenen, schmutzigen Mann, für den das hier Routine war, in der Wildnis, in der Sonne, Routine wie ein Büro in der Stadt. Er wurde an einen grauhaarigen Farbigen weitergereicht, dessen Büro mit erhebenden Sinnsprüchen gepflastert war. Die Daten waren nicht allzu befriedigend; Bray fragte, ob er nicht einen der Betriebsräte sprechen könne – die Akten der Gewerkschaft ergaben vielleicht mehr Sinn. Der Angestellte antwortete irgend etwas Vages und ging aus dem Zimmer. »Nur eine Minute, ja?« Er kam zurück, auf dem Gesicht den gelassenen Ausdruck eines Untergebenen, der die Verantwortung abgewälzt hatte. »Der Direktor sagt, wir nicht wissen, ob er heute da ist, sie nicht arbeiten Samstag, nur wenn machen Überstunden.« Bray hatte ein paar Leute arbeiten sehen. »Ja, ein paar heute morgen machen Überstunden, aber ich weiß nicht …« Der Angestellte war wieder unruhig geworden und brachte ihn in die Etage, wo der Fisch gereinigt und verpackt wurde. Er schien hoffnungslos davon überzeugt zu sein, daß Bray den Mann auf der Stelle inmitten der anderen erkennen würde; tatsächlich blickte einer der Aufseher dieser Abteilung, ein großer, tiefschwarzer Mann, der dort, wo die Fische abgeschuppt wurden, im Wasser stand, rasch auf und warf dem Angestellten einen Blick zu. Er kam daher, beflissen wie einer, der es gewöhnt ist, vorgerufen zu werden. Bray stellte sich vor, und mit beinahe militärischer Exaktheit sagte der Mann: »Guten Morgen, Sir! Elias Rubadiri«, konnte Bray aber nicht die Hand schütteln, da die seine feucht war wie die Fische selbst. Überall an ihm – sogar im Schnurrbart – hingen glänzend die Schuppen – wie Pailletten an einem Karnevals-Neptun. Sie traten hinaus in einen offenen Korridor, um sich miteinanderzu unterhalten; o ja, es gab Gewerkschaftsakten. Aber der Mann, der sie aufbewahrte, war nicht da, sie seien weggeschlossen. Wo? In seinem, im Haus dieses Mannes. Könnte man ihn vielleicht aufsuchen? – Draußen an der frischen Luft trockneten die Schuppen schnell, er rubbelte seine Hände aneinander, daß sie wegspritzten. »Er ist nicht da …« Es folgte jene Pause, die häufig einer präzisen Erklärung durch einen Schwarzen vorausgeht. Bray wechselte über zum intimeren Gala, und der Aufseher sagte: »Wissen Sie, vor kurzem, da … es hat ihn am Kopf erwischt.« Sie kamen ins Gespräch. Rubadiri war einer der halb ausgebildeten Männer, die über einen scharfen Verstand verfügen, im Umgang mit Weißen empfindlich, trotzdem aber selbstsicher sind und zu einer anmaßenden Haltung gegenüber den eigenen Leuten neigen und überall dort Autorität auf sich ziehen, wo die Unabhängigkeit durchgesetzt ist. Nun, da die Kupferschmiedewärme gegenseitiger Abhängigkeit – das einzige, worum man sich im Kreis hinhocken konnte – von der Hochofenhitze der Macht ersetzt worden war, hielten solche Leute die PIP am Leben. Die Auseinandersetzung habe keinen Sinn gehabt – so stellte er es Bray dar. Die alten

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