Der Ehrengast
öfteren begegnet war. Aber sie setzten sich zu niemandem an den Tisch; Dando, der mit durchschwitzten Hemdsärmeln unter diesen Leuten in einer stickigen Bar saß, strahlte jetzt zu guter Letzt nachdenkliche Zufriedenheit aus; wie ein Mann inmitten des Geplappers in seiner eigenen Küche. Ein wenig später wurden sie in die Wohnung der Wentz’ gerufen. Das Wohnzimmer, das sie betraten, hatte trotz der durchsichtigen Eidechsen an den Wänden und trotz des unpersönlichen Mobiliars aus der hiesigen Produktion europäischen Charakter. Der Tisch war schuld daran – ein runder Tisch mit einem wuchtigen, verschnörkelten Mittelfuß und einem gelben Tischtuch, dessen Volant in Falten herabfiel und in dessen Mitte eine Lampe stand. Ihr Lichtkreis fiel auf ein europäisches Interieur, ein Interieur für die früh einbrechende Dunkelheit von Winternachmittagen und die feuchten, klatschenden Winde von Winternächten. Durch die weitgeöffneten Fenster jedoch strömten ein laues Dunkel und das ohrenbetäubende Gelärme der Insekten.
Kaffee stand auf dem Tisch, ein schwarzer, üppiger Schokoladekuchen und eine Schüssel mit geschlagener Sahne. Dando aß drei Stück. Margot Wentz hatte die Ruhe von jemandem, der erschöpft oder völlig von einer Sache in Anspruch genommen ist. Außer wenn sie gerade ihren Verpflichtungen als Gastgeberin nachkam, schien sie Dando und Bray kaum wahrzunehmen, und es war unwahrscheinlich, daß sie schon vorher gewußt hatte, daß sie im Hotel waren. Ab und zu antwortete sie einem der Gäste mit einem unsicheren Lächeln, aber ihren Gatten, der ineinem fort redete, Anekdoten erzählte, die ihr Interesse entweder erwecken sollten oder als schon gegeben voraussetzten, ihre Ansichten zitierte, so als würde sie sie bestätigen, schien sie nicht zu hören.
»Einen Schnaps zum Kaffee«, insistierte er, aber obwohl Bray nichts mehr trinken wollte, sagte Roly Dando: »Ah, wunderbar«, und Hjalmar, immer noch der blonde gutaussehende Mann mit dem sonnengegerbten, wenn auch etwas verwitterten Aussehen, fing an, im Zimmer auf und ab zu schlurfen, Schränke zu öffnen und wie ein alter Mann nervös herumzusuchen. »Ist ein Aquavit, müßte eigentlich dasein … wo, zum Teufel … bin ein halber Däne, müssen Sie wissen, ist mein Nationalgetränk … Gütiger Himmel, was ist denn da alles drin …« Stöße von aufgerissenen Briefumschlägen, auf denen Marken klebten, fielen zu Boden, eingerollte Photographien, Bankauszüge, Gratisofferten für dies oder jenes. Er fing an, hinter den Bänden philosophischer und politischer Werke nachzusehen, die die wackligen Bücherregale füllten; das ganze Zimmer war voll von Büchern, Shaw und O’Neill und Dos Passos in englischer Sprache, Hesse, Hauptmann, Brecht und Rilke in deutscher, Bücher über Psychologie sowohl in Englisch als auch in Deutsch – ein kurzer Blick, und schon wußte man, das waren die Überreste der einst unverzichtbaren Bibliothek von Leuten, die in den dreißiger Jahren in Europa aufgewachsen waren und dann weder das Geld oder den Raum besessen hatten, diese zu ergänzen, noch die innere Stärke, sie zurückzulassen.
»Was suchst du denn eigentlich, Hjalmar?« sagte Margot Wentz plötzlich mit geduldiger, kräftiger, singender Stimme. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Mit der schlafwandlerisch-zielbewußten Sicherheit von jemandem, der den Lageplan der Schränke, Ecken, Nischen wie den Querschnitt eines Ameisenhaufens vor Augen hat, stand sie auf und holte hinter einem Schallplattenständer mit Platten in abgegriffenen Hüllen eine Flasche hervor. »Bitte schön, Hjalmar.«
Wieder war er ganz erstaunt, weil er sich doch eingebildet hatte, sie sei da oder da, er wußte doch ganz genau, daß er sie irgendwohingestellt hatte, und einen Augenblick lang stand sie weiter da und sah ihn an, als wartete sie darauf, daß er sich aus seinen Gedanken befreite.
Ihre Tochter Emmanuelle schlüpfte herein und schnitt sich ein Stück Kuchen ab. »Ja, ich kenne Sie«, sagte sie geradeheraus zu Bray, als ihr Vater sie bekanntmachen wollte; die Nacht des Unabhängigkeitsfestes, als sie wie ein kleines Tier, das sich vor seinen Verfolgern in einer Höhle versteckte, dagesessen, die Anwesenheit des Fremden in mittleren Jahren nicht einmal zur Kenntnis genommen und mit Ras Asahe gesprochen hatte, nahm plötzlich eine Gestalt an, als wäre sie ein intimes Geheimnis, das sie miteinander teilten. Sie schnitt den Kuchen absichtlich schräg an, offenbar weil sie
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