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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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eingeschlafen, und vor ihnen stand der Gedanke, wie ein Versprechen, daß sie in der nächsten Nacht zum ersten Mal miteinander in einem großen Bett schlafen würden – in der Hauptstadt. Also war er nie zu ihr, sie nie zu ihm hinübergekommen; also war es zu dieser besonderen Besiegelung der Erfüllung nie gekommen. Sie verbrachte Tage, in denen sie von einem besessenen Bedauern darüber gemartert wurde. Unter all den Gefühlen des Entbehrens, des Verlustes, der Stille, der Leere, des Endgültigen – wurde das zum drängendsten und grausamsten, denn das Drängende daran war eine Art Spott, die von der Gleichgültigkeit des Todes auf sie zurückgeworfen wurde: es gab nichts, auf das es sich richten konnte. Sie sagte sich, daß sie einander hunderte Male geliebt hatten, die Besiegelung war vollzogen – was spielte da ein weiteres Mal schon für eine Rolle? Aber sie hungerte nach diesem letzten Mal. Es war aufgegeben worden für nichts, zusammen mit allem anderen verloren, ohne Grund. Sie fragte sich wieder und wieder, was es geändert hätte. Aber die Antwort darauf war, daß sie es brennend wollte. Es war ihres. Bevor der Tod kam. Es hatte ihr gehört; nicht der Tod war es, der es ihr genommen hatte – was der Tod einem nahm, darüber ließ sich nicht streiten –, sie hatte davor darauf verzichtet. Sie dachte so oft daran, daß sie in sich selbst die körperlichen Äußerungen des unvollendeten Aktes vollzog. Die Lippen ihres Körpers schwollen an, und sie erkannte mit Schrecken das Verlangen dieser Nacht, das nun niemals mehr befriedigt werden würde.
    Sie begann, sich vor sich selbst zu fürchten.
    Der Geruch von ausgedrückten Zigaretten in Aschenbechern war der Geruch Galas nach den Bränden.
    Während sie um schaudernde Teiche herum- und die großen Alleen hinunterging, die bedeckt waren von den wie Zeitungspapiervollgesogenen Blättern von Parkbäumen, sah sie an den kahlen Ästen die Knospen des kommenden Jahres, die Gefühllosigkeit der endlos sich erneuernden Erde. Würde auch sie es wieder suchen – sie versuchte es auf die nacktesten Fakten zu reduzieren –, diese Begegnung von Fleisch mit Fleisch, bis schließlich, so als bräche ein kleiner Stein die Wasseroberfläche eines stillen Teiches, Ring um Ring von diesem kleinen Stein ausgingen, diesem Kern, der aus seinem Versteck, ihr pralles Zentrum befruchtete, … sie dachte: das ist alles. Sie bekam es mit der Angst. Es würde wiederkommen, dieses alltägliche Verlangen. Alles andere würde wiederkommen; erneuert werden. Sie saß im Bus und spürte die Bedrohung, die von den gewöhnlichen Körpern um sie herum ausging.
    Es gab Tage, an denen die hämmernden Fäuste des Schmerzes ebenso grundlos von ihr abließen, wie sie an anderen Tagen von neuem begannen. Dann weinte sie. Sie hatte damit angefangen, jeden Morgen auf dem Boden des Hotelzimmers Gymnastik zu machen, weil sie in irgendeiner Zeitung gelesen hatte, daß man damit lange Zeitstrecken einfach überstehen konnte, indem man x-beliebige Routineübungen hinter sich brachte, und dann lag sie auf dem vom Dienstmädchen gesaugten Teppich, und aus ihren Augenwinkeln strömten die Tränen. Sie weinte, weil das Gefühl von Brays Gegenwart so stark zurückgekommen war, als hätte er niemals tot auf der Straße gelegen und als wäre es nie geschehen. Was tat sie da in ihrem Hotelzimmer? Das Gefühl von Brays Gegenwart war ihr wiedergegeben, und sie brauchte sich nicht nach Anzeichen seiner Existenz umzusehen und sie auch nicht in Zweifel zu ziehen, denn er war fort, und nichts von ihm war mehr zu finden. Und so starb er ein weiteres Mal für sie. Das irische Dienstmädchen kam um zu putzen, und die Spuren der Tränen waren vor diesen hühnerscharfen Augen unter ihren zotteligen Haarfransen nicht zu verbergen; sie sagte, sie habe gerade gehört, wie sehr ihre Kinder sie vermißten. Die Lüge verwandelte sich in ein zärtliches Gefühl für sie und in die Sehnsucht, sie wiederzusehen; und die Vorstellung, mit ihnen durch Londonzu spazieren, wurde zur Absicht. In wenigen Tagen würde sie sich die Art von Brief, den sie wegen der Kinder an Gordon schreiben würde, zurechtgelegt haben. Sie wußte nicht, wie und weshalb Gordon die Kinder ihr überlassen sollte. Sie stellte sich sogar vor, alles könnte so weitergehen wie eh und je – Gordon, zufrieden damit, daß er irgendwo eine Frau und Kinder hatte, nur ein wenig distanzierter als zuvor.
    Eines Nachmittags kam sie aus dem Supermarkt in der

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