Der Ehrengast
sich eines schwerwiegenden Verstoßes gegen das Gastrecht und den gebührenden Respekt schuldig gemacht. »Nein, Sir, tut mir aufrichtig leid, Sir. Ich habe gerade die Gelegenheit genützt, um ein wenig zu arbeiten …« Bray grüßte ihn auf gala, und, um ihn zu beruhigen, redete er ihn so an, wie es ein ehrerbietiger Schüler gegenüber seinem Meister tut.
Der Mann zeigte zaghaft seine Freude und brachte sofort alles heraus, was er zu bieten hatte – das Schülerverzeichnis, die Übungs- und Texthefte der Schüler –, und die ganze Zeit gab er auf Brays Fragen langsame und ängstliche Antworten und Erklärungen. Eine Schülerin, die an dem rohen, aus Brettern gezimmerten Tisch, an dem er arbeitete, neben ihm gesessen hatte, hörte zu und grüßte ihn mit einem schwachen Lächeln. Der Schulleiter selbst war sehr dünn, schwarz und unter seinem Wollpullover hühnerbrüstig. Seit sieben Jahren gab es seine zweiklassige Schule nun; ein paar Arbeitstische waren da, aber die kleineren Kinder, erklärte er, mußten noch immer auf dem Fußboden sitzen. Ein paar Kinder, die weiter weg wohnten, lebten im Dorf in eigenen Hütten und wanderten an Wochenenden zu Fuß nach Hause. »Dieses Jahr sind wir fünfundsechzig«, sagte er, »bisher unser stärkster Jahrgang. Und davon sind einundzwanzig Mädchen.« Er wies stolz auf ein einzelnes Plakat an der von der Feuchtigkeit wie eine Landkarte gemusterten Wand: UNSER LAND – ein lächelnder Kumpel, der unter Tags in einer Goldmine arbeitete; lächelnde Fischer, die einen Fang einholten; eine lächelnde Frau, die irgendeine Frucht erntete. Bevölkerungsstatistik – grün,staatliche Einkünfte – rot. »Vom Erziehungsministerium. O ja, wir kriegen jetzt sehr hübsche Dinge herein. Ich fülle die Formulare aus. Jetzt kriegen wir sie. Ich wünschte, Sie wären da, wenn die Kinder in der Schule sind, sie würden Ihnen ein Lied singen.«
Schwarze Schulkinder hatten Bray schon oft vorgesungen. »Ein andermal hoffentlich.«
»Meine Frau leitet den Chor. Sie unterrichtet außerdem in der ersten und zweiten Klasse.« Die junge Frau lächelte, hob ihren Blick vom Buch und ließ ihn vom einen zum anderen wandern.
»Ich dachte, Sie wären eins der Schulmädchen!« sagte Bray, und sie lachten.
»Nun, ich pauke mit ihr für die Prüfung. Sie muß im nächsten Monat in die Stadt, um sie zu machen. Sie hat schon vier Kinder, wissen Sie, dadurch mußte sie die Schule unterbrechen. Aber ich lerne mit ihr, wenn ich kann. Sie möchte endlich ihre Abschlußarbeit schreiben.«
»Ein Glück, daß Sie mit einem Lehrer verheiratet sind.« Bray versuchte sie ins Gespräch zu ziehen.
»Und ich lerne für meine Universitätsprüfung, fürs Cambridge Certificate«, sagte der Lehrer eindringlich, wie jemand, der keinen Menschen hat, mit dem er reden kann. »Ich habe hier die Unterlagen für die Englischprüfung – natürlich nicht für die, die ich selbst schreiben muß, wissen Sie …«
»Ich weiß schon – ein Muster.«
»Ja, die Arbeit, die die Studenten 1966 geschrieben haben – verstehen Sie. Ich habe ein Problem, weil es da ein paar Vokabeln gibt, die ich einfach nicht finden kann …« Er ging zum Tisch hinüber und brachte ein kleines, altes Wörterbuch.
»Ich verstehe – die weniger gebräuchlichen Wörter stehen da nicht drin, nicht wahr …«
Die Frau ging ihm rasch bei seiner Suche nach der Arbeit und dem Übungsheft an die Hand. Die Augen flogen schnell über das Papier, wobei sich seine Lippen ein wenig bewegten. Bray bemerkte, daß er beim Atmen keuchte, so als litte er an einem Katarrh. »Dieses eine Wort da – hier ist es, ›mollify‹ …«
Bray wollte lachen, er spürte einen Reiz im Hals wie vom Kitzeln eines Hustens; er nahm die Prüfungsvorlagen, um ein wenig mit ihnen zu spielen, weil er mit »zivilisierter« Höflichkeit so tun wollte, als wäre Unsicherheit über die Bedeutung dieses Wortes etwas, das jedermann widerfahren konnte – und das war in sich selbst wiederum ein Teil dieser absolut absurden Situation: die Vorurteile kolonialer Kultur. Er las: »Schreiben Sie einen der folgenden Briefe – a) an einen Vetter, dem Sie die Erlebnisse schildern, die Sie bei einem Schulausflug auf dem Kontinent gehabt haben; b) an Ihren Vater, dem Sie erklären, aus welchem Grund Sie sich für eine Karriere in der Marine entscheiden möchten; c) an einen Freund, dem Sie über den Besuch einer Bildergalerie oder eines Filmes erzählen, die oder der Ihnen gefallen hat.«
Der
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