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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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werden. Irgendwie. Wenn nicht auf die eine Weise, dann auf die andere. Du weißt schon.«
    »Ich möchte wissen, was passiert ist.«
    So als erklärte er es einem Kinde, sagte Shinza: »James, sein Kopf wollte nicht antworten, also stellten sie ihre Fragen an seinen Rücken.«
    »Ich verstehe.«
    »Du kannst die Fragen auf seinem Rücken sehen. Möchtest du sie sehen? Ich werde ihn dir herholen.« So als wollte er es hinter sich bringen, wurde er jetzt mit einem Mal stur und bestand darauf, daß Bray das Ausstellungsstück genau besichtigte. »Ich will nicht, daß du irgendwelche wilden Buschgeschichten glaubst – ich werd ihn holen, und du kannst ihn dir ansehen. Nein, nein, bleib hier, ich hol ihn für dich her.«
    Bray blieb allein zurück, um ihn herum Shinzas Habseligkeiten. Das Mädchen hinter dem Vorhang war still – sie schien mitgehört zu haben; sie kam nicht heraus.
    Shinza war rasch wieder im Zimmer und schob den Jungen vor sich her. Der gab kein Zeichen des Wiedererkennens – Brays Begrüßung erstarb noch auf seinen Lippen, bedeutungslos. Shinza sagte auf gala: »Beug dich vor.« Er hob das Hemd des Jungen. Der Junge stand mit gespreizten Beinen da, die Hände auf die Knie gestützt. Er sah sich nicht um. Von der Taille, die durch seine Haltung noch schmaler wurde, ging sein Rücken bis hinauf zu den Muskeln unterhalb der Schulter in die Breite, gelblich um dieMitte, pulvergrau in den flachen Vertiefungen zu beiden Seiten der Wirbelsäule, mattbraun über den Muskeln und Schultern. Die Poren der Haut waren erhaben, körnig vom hart gewordenen Talgsekret, das wegen des langen Mangels an frischer Luft und Sonnenlicht nicht hatte austreten können. Eine Haut, die wie das Fell eines Tieres in Gefangenschaft ihren Glanz eingebüßt hatte; Bray kannte diese Art von Haut; er war ihr nicht mehr begegnet, seit er als D. C. auf der Richterbank gesessen hatte und ihm Gefangene vorgeführt worden waren. Im Haus in Wiltshire waren solche Dinge – war die Realität solcher Dinge nicht existent gewesen.
    Er war von dem Faktum dieser Haut so sehr wachgerüttelt, daß die kreuz und quer verlaufenden, verheilten Striemen auf ihr – leicht sich kräuselnde Streifen mit dem seidigen Schimmer von Lippen – sich ihm kaum in ihrer Bedeutung erschlossen. Narben, ja, Wunden, ja, der Protest, die langanhaltende Erinnerung des Körpers an all das, was ihm angetan wird – der Zorn der Pickel, rauhe Stellen, die alles festhielten wie in eine Baumrinde eingeritzte Botschaften. Die leichte Vertiefung, weit unten an der linken Seite des Brustkorbes, zum Beispiel; woher stammte die? Eine angeborene Deformierung? Die Verkümmerung eines Knochens aufgrund irgendeines frühen Ernährungsmangels? – Er ließ seinen Finger über die Blindenschrift einer Narbe gleiten – dann zog er ihn, brennend vor Scham, wieder zurück. Der Junge blieb gebückt stehen, ein Objekt – so wie man ihn für die Schläge selbst gezwungen haben mußte, sich zu bücken. Ein paar der Narben waren nicht mehr als kaum sichtbare Zeichen, die blasser geblieben waren als die sie umgebende Haut, in die sie übergingen, gleichsam vergessend, um sich bald ununterscheidbar mit den anderen Hautzellen zu verbinden.
Die
da mußte tief gewesen sein und im Fleisch geklafft haben, daß sie einen derart dicken Streifen wilden Fleisches hatte ausbilden müssen, um es wieder ganz zu machen. Plötzlich sah er das Muster der Schläge, das regelmäßig wie die Einschnitte in einem Stück gespickten Fleisches über den Rücken lief. Im Unterschenkelmuskel eineskräftigen, rachitisch gekrümmten Beines zeigte sich eine weitere blasse Spur zwischen den spärlichen Haaren. Bray zeichnete sie in der Luft, ein oder zwei Zoll über dem Fleisch, nach, wobei er Shinza ansah: Und das da?
    »Da hat einer nicht getroffen«, sagte Shinza. Seine Lippen zogen sich, die Klammern des sie säumenden Bärtchens zogen sich zurück; einen Augenblick lang zeigte er seine Zähne, und während die Lippen sich wieder über sie schoben, erstarb sein Grinsen.
    Es hätte eine alte Narbe sein können, die von einer unschuldigen Verletzung zurückgeblieben war – von einem Sturz, einem Unfall –, die nichts mit dem Gefängnis in Gala zu tun hatte, aber Shinza hatte keine Zeit für derlei feine Unterscheidungen. Bray sah: Für ihn waren alle Wunden eine einzige; und die war die seine.
    »Was hätten sie aus ihm herausholen können, das das wert gewesen wäre?«
    Und jetzt grinste Shinza wirklich,

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