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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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der Sonne zu Fuß gehen mußte. Während er seinen Kaffee trank, schickte er Kalimo mit einer Mitteilung und dem Schlüssel für den Volkswagen hinüber und forderte das Edwards-Mädchen auf, ihn zu benutzen. Kalimo sagte: »Die
Doña
, sie sehr glücklich, sie sagen danke, sie müssen Kinder abholen, vielen Dank.«
    Er erledigte unter dem Feigenbaum irgendeine Arbeit; während er seine eigenen Berichte zusammengestellt hatte, hatte er auch nach England geschrieben, man möge ihm alles an Literatur zuschicken, was es über Erziehungssysteme in unterentwickelten Ländern gab. Unter dem Zeug, das während seines Aufenthaltes bei den Bashi angekommen war, befand sich ein Wälzer, der sich mit Lateinamerika beschäftigte. Er machte sich daran, ihn durchzulesen und Notizen zu machen; die unvertrauten spanischen Namen waren Halteseile für den Gang seiner Gedanken, der glatt und gläsern war. Nur mühsam kam er in der Hitze, die die Atmosphäre dickflüssig machte wie Gelatine, voran. Zu dieser Tageszeit war der Garten ein schlechter Platz. Das Weiße der Sonne hinter den Wolken bewegte sich, die Flamme eines Schweißapparats, an den Rändern von Ästen und häutigen Blättern entlang und bombardierte den Nerv, der – ein Zyklopenauge – zwischen seinen Augen vibrierte. Aber es war ihm zuviel Mühe, alles wieder hineinzutragen. Um halb fünf – das war die Zeit, zu der Beamte der Kolonialverwaltung nach Hausegekommen waren – brachte Kalimo Tee, und Bray bat zusätzlich noch um kaltes Wasser. Es tat seinen Zähnen weh und schien schmerzhaft an den Nerv in jenem dritten Auge zu rühren. Er ließ die Bücher unter dem Baum zurück und ging in das geschützte Wohnzimmer, und als er es betrat, reifte in ihm ruhig und selbstverständlich der Entschluß: er würde morgen in die Hauptstadt fahren. Er legte sich auf das Sofa, dessen lose Überdecke sich unter seinem Gewicht aufwarf, und rauchte ein Zigarillo. Sein Kopf hatte nichts von dem, was er gelesen hatte, behalten. Er schlief; und mußte mehr als zwei Stunden geschlafen haben.
    Er erwachte in einem kühler und dunkler werdenden Zimmer, aus dem sich der Tag in eine rosenfarbene Dunkelheit zurückzog, die von einem jener strahlenden Sonnenuntergänge vor der Veranda zurückgeworfen wurde. Die Luft war rosa und dunkel gesprenkelt wie die Innenseite eines Lids. Eine Gestalt bewegte sich im Zimmer. Sie legte lautlos die Schlüssel auf den Tisch und behielt ihn dabei im Auge, wie um ihn nicht zu wecken. Sie erstarrte wie ein Kind in einem Spiel, als er sie ansah. In seinen Ohren war ein Singen – das Singen der Zikaden, das aus dem Garten vor dem Haus hereindrang. Er streckte den dunklen Umriß seines Armes aus – um die Schlüssel an sich zu nehmen; eine Geste der Entschuldigung.
    Und dann, in einem zweiten Zögern, wandte sie sich mit jener seitlichen Drehung der Hüften, mit der sich eine Frau zwischen Möbelstücken bewegt, um, kam herüber und packte seinen Unterarm – nicht die Hand – mit einem seltsam tröstenden Griff, einer Art des Beruhigens. So als fiele er in Schlaf, eher als daß er erwachte, sah er nun mit großer Bewußtheit und Schärfe, was er zu jenem Zeitpunkt kaum wahrgenommen hatte: ihre Hände, die, die Handflächen nach außen gekehrt, erhoben gewesen waren, ihre Brüste, die sich in der ungewollten Bewegung des Zurückweichens ihm dargeboten hatten – damals, am ersten Tag, als er beim Öffnen der Bürotür, hinter der sie gestanden hatte, fast mit ihr zusammengestoßen war.
    Sie sahen einander an, aber die Gesichter waren im Halbdunkelbloß schemenhafte Verdichtungen und nicht in ihren Zügen zu erkennen. Er sagte: »Setzen Sie sich«, und drehte seinen Unterarm, um ihr Handgelenk zu umfassen und sie aufs Sofa zu ziehen.
    »Die Tür war offen«, sagte sie, als sie neben ihm saß. Die Dunkelheit strömte im ganzen Raum zusammen. Im Eingang hing ein limonenfarbener Spiegel aus Licht.
    »Ich kann mich nicht erinnern, jemals solche Kopfschmerzen gehabt zu haben.«
    »Oh, hatten Sie welche? Um drei war die Luftfeuchtigkeit grauenhaft.«
    »Hat sich der VW anständig aufgeführt?«
    »Er war ein Segen. Die Kinder waren ganz drüben, an der anderen Seite der Stadt, beim Haus der Reillys.«
    Er würde aufstehen, die Lampe andrehen und ihr einen Drink anbieten. Während er das dachte, wurde er von einem derart starken Verlangen übermannt, daß sein ganzer Körper davon wie angeschwollen war – das gewaltige, undifferenzierte Verlangen, das er nicht

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