Der Eid der Heilerin
fror auch der Fluss zu, selbst der Älteste im Dorf hatte so etwas noch nicht erlebt. Und im Wald, wo die großen Bäume standen, bot sich ein jämmerliches Bild: Der Boden war mit toten Spatzen übersät, die im Schlaf erfroren und von den Bäumen gefallen waren.
Die ganze Welt hielt den Atem an und wartete auf die Geburt des Jesuskindes, und selbst die Zyniker unter den Höflingen lauschten andächtig den vertrauten Worten aus der Bibel. Einige Gebildete unter ihnen konnten sogar genug Latein, um zu verstehen, was der Pfarrer sagte.
Im vorderen Teil der neuen Kapelle, unmittelbar hinter dem König, stand William Hastings. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere und wischte sich den Schnee von den Schultern. Für ihn stand schon seit langer Zeit fest, dass Religion bestenfalls dazu diente, das Volk bei der Stange zu halten, zu mehr aber nicht. Es widerte ihn an, wie viele kirchliche Einrichtungen in England sich von der schamlosen Bestechlichkeit und der Verschwendungssucht des päpstlichen Hofes korrumpieren ließen. Außerdem war Rom der habgierigste Grundbesitzer von ganz England und der gesamten christlichen Welt. Er empfand es als Beleidigung, dass ein Mann aus einem weit entfernten Land, den er nicht einmal kannte, fast ein Drittel seines Landes besaß, keine Steuern zahlte und zuließ, dass seine Beamten ein unsittliches Leben führten. Hastings zitterte. Die Zeit der Abrechnung würde kommen, das spürte er in seinen Knochen, und in Augenblicken wie diesem, wenn die kirchliche Botschaft von Unschuld, Erlösung, Gerechtigkeit und Wahrheit so weit von der Wirklichkeit des Alltags entfernt war, wurde er nur umso zorniger.
Doch es gab andere, dringlichere Dinge zu bedenken. Nach der Messe würde er sich die Aufmerksamkeit des Königs lange genug sichern müssen, um ihm von Mathew Cuttifer berichten zu können. Aus dem Norden des Landes kamen üble Nachrichten. Edward würde rasch und unbemerkt eine Armee aufstellen müssen, um bei dem ersten Anzeichen einer Wetterbesserung Warwicks Festung zu stürmen. Dafür benötigte er Geld von seinen Untertanen, und aus diesem Grund hatte William Mathew Cuttifer gebeten, aus London anzureisen. An diesem Nachmittag war er von vier fast zu Eis erstarrten Bootsleuten hergerudert worden, nur eine Stunde, ehe der Fluss endgültig zugefroren war.
Hastings wusste, dass Mathew der Schlüssel zu den Geldsäcken der reichen Londoner Kaufleute war. Wenn sie den König unterstützten, würden sie eine Gegenleistung fordern. Deshalb galt es, möglichst schnell herauszufinden, was sie wollten.
William hatte keine Ahnung, dass sich noch ein weiterer Gast im Schloss aufhielt, eine Besucherin, die vielleicht nicht so mächtig war wie Mathew, aber ebenso sehnlich erwartet wurde. Denn sie hütete ein Geheimnis, das schon längst hätte gelüftet werden müssen, ein Geheimnis, das Edwards Herrschaft verändern oder sogar vernichten konnte.
Deborah war überrascht gewesen, als drei Tage vor Weihnachten ein alter Freund, der Kesselflicker Alan, an ihrer kleinen Hütte angeklopft hatte. Obwohl die Leute im Dorf wussten, wo sie ihr makellos sauberes Häuschen mit dem Kräutergarten finden konnten und immer wieder ihre Heilkünste in Anspruch nahmen, legte Deborah großen Wert auf ein zurückgezogenes Leben. Ihr Ruf als Heilerin war von Vorteil, weil er ihr einen kleinen Zusatzverdienst sicherte, aber sie wusste auch, dass die Heilung von Menschen und Tieren von gedankenlosen Außenstehenden als Hexerei ausgelegt werden konnte. Deshalb war es ihr recht, dass nur wenige außerhalb des Dorfes wussten, wo sie zu finden war. Zu ihnen gehörte auch Alan. Er war immer ein willkommener Besucher, denn er brachte von seinen Reisen stets Neuigkeiten aus aller Welt mit und flickte ihre Werkzeuge, Töpfe und Pfannen.
Sie bezahlte ihn in Naturalien, und er kam immer wieder bei ihr vorbei, denn ihre Heilmittel waren sehr wirkungsvoll, und er konnte sie in Fläschchen abgefüllt zu einem guten Preis weiterverkaufen. Zum Beispiel den Saft gegen das Winterfieber, den sie aus Honig, Rosmarin, Wacholder und Weingeist mischte. Oder getrocknete Mariendistel und rote Betonie, die als heißer Brei auf die Brüste aufgetragen werden mussten, wenn nach der Geburt eines Kindes die Milch nicht einschießen wollte. Gegen Fieber bei Kleinkindern gab es eine Medizin aus Weidenrinde und Weidenblättern. Ihr wirksamstes Mittel aber war eine cremige, süß schmeckende Arznei gegen Bauchkrämpfe, die besonders von
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