Der Eid der Heilerin
waschen. Mary wusste genau, welche Temperatur das Wasser für die kostbaren Stücke haben musste. War es zu heiß, verfilzte der Stoff und lief ein, war es zu kalt, ließen sich weder die Schmutzflecken entfernen noch der Schweißgeruch, auf den die Königin äußerst empfindlich reagierte, auch wenn ihn außer ihr fast niemand wahrnahm. Natürlich konnten viele der mit Brokat oder Pelz besetzten Kleider gar nicht gewaschen, sondern mussten auf andere Weise behandelt werden. Derartige Kenntnisse konnten einer Waschfrau eine lange und einträgliche Laufbahn bei Hof sichern.
»Heute Abend sind es drei Stücke, Mary. Ein Samtkleid, ein Brokatkleid und ein Wollkleid. Die Königin möchte das blaue Samtkleid übermorgen tragen. Glaubst du, du schaffst es bis dahin?«
Schweigend nahm Mary das Kleid entgegen und musterte es im Licht einer Wandleuchte. Unter den Ärmeln zeichneten sich Schweißflecken ab, und auf dem Oberkleid waren mehrere Fettflecken vom letzten Abendessen zu sehen, trotz der vornehmen Essgewohnheiten der Königin.
»Tja, das muss ich wohl, oder? Wenn man die Nase daran hält, stinkt es ein bisschen.« Mary schnüffelte unter den Ärmeln und musste lachen. »Du solltest dein Gesicht sehen! Königinnen sind auch nur Menschen wie du und ich. Sie essen, sie schlafen, sie scheißen, und sie pissen - vergiss das nie, Anne. Aber wer weiß das besser als du? Natürlich kleidest du sie an. Darf ich dir einen Weihnachtstrunk anbieten?«
Großzügig hielt sie einen Steinkrug hoch, dessen Wölbung das Wappen von Hastings zierte. »Ein kleines Geschenk, von einem Freund von mir.« Anne erkannte das Wappen und fragte sich, woher Mary den Krug wohl hatte. Leider konnte sie nicht bleiben, so gern sie es getan hätte.
»Ich muss zurück zur Königin, aber heute Abend, nach der Messe, da hätte ich Zeit. Dann stoßen wir zusammen an.« Spontan umarmte sie Mary. Die Waschfrau hatte ein großes
Herz und war Anne gegenüber immer sehr edelmütig. Einmal hätte sie sogar fast ihre Stellung riskiert, als sie sich bei Jehanne für Anne eingesetzt hatte. Rose hatte Anne beschuldigt, ein Kleid der Königin versengt zu haben, als sie es mit einem heißen Bügeleisen auf dem steinernen Waschtisch geplättet hatte. Das habe sie nur getan, weil sie Annes Gesicht so gern mochte, hatte Mary gesagt, nachdem sich die Aufregung wieder gelegt hatte.
Anne eilte von der Waschküche durch die beinahe menschenleeren Gemächer der Königin zu Jehannes Stube. Im Stillen dankte sie Jehanne, dass sie Deborah an den Hof geholt hatte, trotzdem fürchtete sie sich ein wenig vor dem bevorstehenden Gespräch. Bestimmt würde Deborah darauf bestehen, dass sie den Hof verließ und sich auf diese Weise dem Einfluss des Königs entzog. Sie war so in ihre quälenden Gedanken vertieft, dass sie beinahe an der Tür zu Jehannes Stube vorbeiging.
Als Anne eintrat, saßen die beiden Frauen dicht nebeneinander auf dem Schrankbett, und Jehanne hielt eine kleine, kostbar gearbeitete Schere in der Hand.
»Komm, setz dich neben mich, Kind. Deborah und ich haben über die Vergangenheit gesprochen - und wie wir uns kennen gelernt haben.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Anne verblüfft.
Die beiden Frauen tauschten einen Blick, gaben aber keine Antwort. »Was weißt du von deinen Eltern, Kind?«, fragte Jehanne.
Anne bemerkte Deborahs besorgten Blick und bekam Angst. »Nur dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist und mein Vater sehr krank war und deshalb nicht für mich sorgen konnte. Deborah nahm mich auf und wurde meine Ziehmutter.«
Die beiden Frauen sahen einander an. Jehanne bekreuzigte sich und schien allen Mut zusammenzunehmen. »Anne, dein Vater lebt.«
Die Miene des Mädchens erhellte sich, aber Jehanne hielt ihre Hand hoch und sprach weiter: »Er lebt, aber ...« Sie schluckte und rang nach Luft. »Anne, dein Vater ist König Henry, das heißt der ehemalige König, der sechste seines Namens. Und du bist die Enkelin des großen Königs Henry, seines Vaters, der die Franzosen bei Azincourt geschlagen hat.«
Anne schüttelte verwirrt den Kopf. Wovon sprachen sie da? »Der alte König ist verrückt. Es heißt, er habe sogar versucht, seine Matratze zu essen!« Anne starrte Jehanne ungläubig an. Sie war ein Mädchen vom Land, eine Dienerin, was sonst?
»Nein, er war nie verrückt. Die Staatsgeschäfte haben ihn nur sehr belastet, und er hat sich - zumindest geistig - zurückgezogen. Im Winter war es immer am schlimmsten, und seine Frau, die
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