Der Eid der Heilerin
Müttern geschätzt wurde, weil die Kinder sie widerstandslos schluckten. Gegen Herzbeschwerden bei Männern bereitete Deborah Pillen aus zerstoßenem Fingerhut und Weißdornbeeren zu, die das Blut verdünnten. Diese Pillen waren Alans Verkaufsschlager. Deborahs Tabletten hatten so manchem dicken Müller oder Pfarrer schon das Leben gerettet. Ließ man sie unter der Zunge zergehen, verebbten auch die Schmerzen in Brust und Armen. Oft genug aber führten die Männer ihre Rettung auf ihren Lieblingsheiligen zurück und gelobten eine Pilgerreise für ihr Seelenheil.
An diesem kalten Wintertag brachte Alan Deborah ein kleines Stück Velinpapier mit, das mit ungelenken Schriftzeichen beschrieben war. Sie las es im Schein des Feuers mit- hilfe einer Linse, die er ihr im Jahr zuvor mitgebracht hatte, denn ihre Sehkraft hatte in letzter Zeit nachgelassen. Als sie die Zeilen entzifferte, zeichnete sich zum Erstaunen des Kesselflickers so etwas wie Angst auf ihrem Gesicht ab. Gleich darauf warf sie ein paar saubere Kleider in eine Ledertasche und packte in letzter Minute noch ein ungewöhnlich schönes Kleid aus maulbeerfarbenem Brokat ein, dazu einen hohen Hennin mit einem hauchdünnen Schleier, den sie mit sauberen Unterkleidern auspolsterte, um ihn vor Schaden zu bewahren.
Nachdem sie einen dicken, mehrfach geflickten Reisemantel umgelegt hatte, ritt sie mit Alan auf seinem kräftigen, kleinen Pferd und dem Packpferd im Schlepptau davon. Beide wussten, dass der Ritt in das östlich gelegene Windsor sehr kalt werden und sie die eisigen Temperaturen vielleicht nicht überleben würden. Doch nach einer schier unerträglichen Reise erreichten sie schließlich am Weihnachtsabend halb erfroren das Schlosstor, kurz bevor das Schneetreiben einsetzte.
»Zu wem wollt Ihr?«, fragte der wachhabende Soldat nicht unfreundlich, als er die frierende Frau erblickte.
»Ich soll nach Sergeant Cage fragen. Er erwartet mich.«
Es dauerte über eine Stunde, bis Sergeant Cage gefunden war. Uberall im Schloss feierte man die bevorstehende Geburt des Heilands. Das riesige Gebäude, das üppig mit immergrünen Tannenzweigen und Stechpalmenzweigen geschmückt war, stellte ein wahres Labyrinth dar, und es war nicht leicht, jemanden aufzuspüren, von dem man nicht genau wusste, wo er sich gerade aufhielt. Zur Feier des Tages gestattete der Wächter der Frau und dem Kesselflicker, sich an dem Feuer in der Wachstube im äußeren Schlosshof aufzuwärmen. Er veranlasste sogar, dass die Pferde des Kesselflickers zu den Ställen gebracht und gefüttert wurden. Ich werde noch weichherzig. Muss an Weihnachten liegen, dachte er bei sich.
Deborah war froh, dass sie etwas Zeit hatte, sich einigermaßen herzurichten. Wenigstens konnte sie ihre Kleidung schon etwas trocknen lassen, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als sie auszuziehen und richtig zu trocknen. Die lange, anstrengende Reise hatte sie so erschöpft, dass sie eingenickt war, als Sergeant Cage mit einem kalten Windstoß aus dem dunklen Hof in die Wachstube trat und den Schnee von seinen rohledernen Schuhen trat. Er war überrascht, Deborah und den Kesselflicker am Feuer sitzen zu sehen, denn obwohl Jehanne ihm ihr Erscheinen angekündigt hatte, hätte er nie geglaubt, dass in dieser Jahreszeit die Nachricht so schnell überbracht werden würde. Aber sie hatten es geschafft, und da Dame Jehanne ihn zu Stillschweigen verpflichtet hatte, wollte er ihrem Wunsch Folge leisten.
Unter den neugierigen Blicken des Dienst habenden Wachmanns wartete er, bis die Frau ihren klammen Mantel angezogen hatte, und hielt ihr die Tür auf. Nachdem er den Kesselflicker zu den Ställen geschickt hatte, führte er Deborah eilig durch den riesigen Innenhof zum Lieutnant's Tower und dem mächtigen Burgfried, der schwarz in den Nachthimmel aufragte und hinter dem die Privatgemächer des Königs und der Königin lagen. Das Schneetreiben hatte sich zu einem Schneesturm ausgewachsen, und auf dem langen, dunklen Weg durch die Innenhöfe war der Frau die Erschöpfung deutlich anzusehen. Cage konnte nur hoffen, dass sie durchhielt, bis er Jehanne gefunden hatte.
Doch das Glück war auf ihrer Seite, oder aber die Frau war robuster, als sie aussah. Er fand Jehanne, als diese gerade aus Elizabeths Gemächern kam, wo die Königin für das abendliche Fest angekleidet worden war. Deborah und Jehanne sahen einander lange an. Dann bekreuzigte sich Jehanne bedächtig und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es ist also
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