Der Eid der Heilerin
Samt aus Flandern. Auch Deborah sah wieder ein wenig besser aus.
Bald trieb das Boot in ruhigerem Wasser, doch in der Kajüte war es immer noch unerträglich stickig. Deborah drängte Anne, an Deck zu gehen. Als junge Frau war Deborah einmal nach Norwich gereist und bis zum Wash mit dem Schiff gefahren. Von damals wusste sie, dass die Seekrankheit leichter zu ertragen war, wenn man die Wellen vor Augen hatte, als wenn man sie unter Deck nur spürte.
Jane war in einen unruhigen Schlaf gefallen, und Anne wollte sie nicht allein lassen, aber davon wollte Deborah nichts wissen.
»Komm schon, Mädchen, wir sind schon lange genug hier eingesperrt. Frische Luft wird dir gut tun. Mach dir um uns keine Sorgen. Was ich vor allem brauche, ist Schlaf.« Sie gähnte herzhaft, und Anne gab nach. Sie schlang den schweren Mantel um sich und wankte erleichtert aus der Kajüte. An Deck war es beinahe dunkel geworden, und im Westen, über dem Land, versank die Sonne in blutroter Pracht. Ü ber dem Meer glitzerten die ersten Sterne und bohrten sich wie kleine Kristallsplitter durch den dunklen Osthimmel. In ihrem dunklen Mantel fast unsichtbar kletterte sie die leiterähnlichen Stufen zum Heck hinauf und passte ihre Schritte den schaukelnden Bewegungen des Schiffes an. Leif Mollnar stand am Ruder und schnüffelte wie ein Hund in den Wind.
»Kapitän?« Sie wusste, dass er sie nicht gern auf seiner Brücke sah, aber beim Anblick der wogenden Wellen wurde sie augenblicklich wieder klarer im Kopf.
Wegen des Windes konnte Leif sie zuerst nicht hören. Sie trat zu ihm und tippte ihn freundlich an die Schulter. »Kapitän?«
Erschrocken fuhr er zusammen und verlor für einen Augenblick die Kontrolle über das Steuerrad, als er die bleiche, in Dunkelheit gehüllte Gestalt wahrnahm. Missmutig runzelte er die Stirn. Er hatte doch angeordnet, dass die Frauen unter Deck bleiben sollten. Und hier stand dieses Mädchen auf seiner Brücke, als stünde es ihr zu, lächelte ihn an und wollte etwas über die Sterne wissen und wie er sich bei Nacht zurechtfinde. Sie schien sich für alles, was er tat, ungemein zu interessieren, so dass er ihr schließlich murrend erklärte, wie er navigierte. Kurz darauf erbot er sich sogar, ihr das Astrolabium zu zeigen, das er in seiner Kajüte aufbewahrte. Ihre ungezwungene Art, ihm Fragen zu stellen, ließ ihn glauben, dass sie tatsächlich etwas lernen wollte.
Als der Wind ihrem Gesicht wieder etwas Farbe geschenkt hatte, bemerkte er auch, dass sie sehr schön war. Doch dann dachte er an das Versprechen, das er seinen Männern gegeben hatte, und bat sie, wieder nach unten zu gehen. Anne verstand, bat ihn jedoch, dass auch Deborah und Jane, wenn sie aufgewacht waren, ein wenig frische Luft schnappen dürften.
Leif kannte die Frauen der Häfen seit seinem zehnten Lebensjahr, aber nie hatte er erlebt, dass ein Mädchen so offen und vertrauensvoll zu ihm aufblickte wie dieses. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er verspürte den seltsamen Drang, die Hand auszustrecken und zart ihre Lippen zu berühren. Er hätte sich sogar zu ihr hinabbeugen und sie küssen können, wenn er schnell genug gewesen wäre und sie sich nicht bewegt hätte. Doch dann hielt er sich vor Augen, wo sie sich befanden. Derartige Dinge konnten in einer Katastrophe enden, denn die See war ein eifersüchtiges Wesen. Außerdem hatte das Mädchen einen Wunsch geäußert, den er ihr kaum erfüllen konnte.
»Geht wieder nach unten. Vielleicht später, wenn wir zum Hafen kommen.« Aus Unsicherheit klangen seine Worte unwirscher als beabsichtigt, und Anne, die sich ihrer freundlichen, offenen Art schämte, ließ den Kopf hängen. Männer waren doch seltsame Wesen. Sie war sich beinahe sicher gewesen, dass der Kapitän sie mochte, und nun musterte er sie wie einen ungehorsamen Matrosen, der eine Tracht Prügel verdiente.
Aus reiner Gewohnheit deutete sie einen wackligen Knicks an und überließ ihn seinen Aufgaben.
Leif Mollnar sah Anne mit Bedauern nach, als sie über Deck zur Stiege schwankte. Inzwischen war es stockdunkel. Ja, drei Frauen zu befördern war nicht so einfach wie eine Fracht aus Wolle und Stoffen ...
Erst am Ende des folgenden Tages löste Leif Mollnar sein Versprechen ein. Als die Lady Margaret in den Hafen von Whitby einfuhr, bat der Kapitän die drei Frauen an Deck. Der Seemann mochte Whitby. Es war eine saubere Kleinstadt mit gedrungenen, solide gebauten Häusern, die sich hügelwärts um einen praktischen Steinkai
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