Der Eid der Heilerin
gruppierten. Oberhalb des Hafens, auf dem großen, schwarzen Kliff, ragte die Abtei der heiligen Hilda empor.
Whitby war ein Fischerhafen, und selbst im Winter drang aus den Häusern der Stadt der Gestank von Fischabfällen. Die Seeleute wussten um die heilende Wirkung, die der Geruch von verwesendem Fisch und Tang besaß, doch für Menschen, die nicht aus dem Norden stammten, war der Gestank, der sie bei der Einfahrt in den Hafen empfing, eine Zumutung. Nicht anders erging es Anne und ihren Gefährtinnen. Sie hatten kaum die schlüpfrigen Planken bis zum Kai überwunden, als der Geruch ihnen den Atem verschlug.
Die arme Jane wurde zuerst blass, dann wächsern grün. Sie war an die üblen Gerüche von London gewöhnt, aber dies hier war etwas anderes, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich die robuste, junge Frau einer Ohnmacht nahe. Auch Deborah erging es nicht viel besser, trotzdem gelang es ihr, ihre angebliche »Herrin« zu stützen, die mit weichen Knien am Kai stand. Vielleicht war Anne von zäherer Natur, jedenfalls schleppte sie erst Jane, dann Deborah zu einer Bank unter dem Vordach einer Hafenschänke namens Robin Arms. Leif befahl seinen Leuten barsch, die Habseligkeiten der Frauen an Land zu bringen, ehe er sich auf den Weg machte, um nach Jane zu sehen. Er war ein wenig besorgt, denn Sir Mathew hatte ihm eingeschärft, sich ganz besonders um die Tochter seines Freundes zu kümmern. Zudem war dem Kapitän unangenehm, dass seine Schützlinge sich in diesem verrufenen Teil der Stadt aufhielten, wo die Frauen aus den Hurenhäusern die aus London kommenden Schiffe versorgten.
»Kommt, Ladies, das ist kein rechter Ort. Ich bringe Euch zur Abtei hinauf. Dort könnt Ihr ruhen, bis ich Sir Mathews Männer gefunden habe. Sie werden Euch das restliche Stück der Reise begleiten.«
Er half den geschwächten Frauen auf die Beine und schickte den Schiffsjungen nach einem Wagen, der sie den langen, gewundenen Weg durch die Stadt zur Abtei bringen konnte. Obwohl es früh am Morgen war, herrschte in dem kleinen Hafen reges Treiben. Interessiert betrachtete Anne die dicht nebeneinander stehenden Häuser. Die meisten waren aus dem aus der Umgebung stammenden Graustein gebaut, doch es gab auch Fachwerkhäuser mit Eichenbalken und gekalkten Lehmwänden. Die Leute sahen kräftig und gesund aus - windgegerbte Gesichter, weiße Zähne, dunkles Haar und auch wenn sie im Vergleich zu den besser genährten Südengländern eher klein wirkten, bewegten sie sich voller Tatendrang und lachten viel.
Da keine Kutsche gefunden werden konnte, mussten sie mit einem Handkarren für das Gepäck und zwei Eseln vorlieb nehmen. Auf Bretonisch schimpfte Leif den Knaben mächtig aus. Die Frauen waren eine wertvolle Fracht, und er hatte ihnen nichts Besseres zu bieten? Der Junge zuckte gleichmütig die Achseln und ließ den Schwall von Beleidigungen, die selbst seine Eltern nicht verschonten, an sich abperlen. Was konnte er schon dafür, dass es nicht genügend Esel gab? Er hatte sein Bestes getan, und außerdem hatten die Frauen doch Beine, oder nicht? Natürlich ließ Leif nicht zu, dass Jane Shore zu Fuß ging. Seltsam fand er nur, dass die alte Frau darauf bestand, dass Anne auf dem anderen Esel reiten sollte, was diese jedoch strikt ablehnte.
Schließlich machten sie sich auf den Weg. Er führte den Esel mit Jane, Anne den mit der alten Frau, während der Schiffsjunge den Handkarren zog. Leif hatte ein schlechtes Gewissen, da er diese Aufgabe besser Simon hätte überlassen sollen, denn er trug die Verantwortung, dass die übrige Fracht der Lady Margaret ordentlich gelöscht wurde. Aber die Verlockung, noch eine Weile mit diesem reizenden Mädchen zusammen zu sein, hatte über sein Pflichtgefühl gesiegt. Überrascht bemerkte er, wie sein Herz hüpfte, wenn sie ihn anlächelte und ihm Fragen stellte.. Viel zu schnell erreichte das Grüppchen die Tore der Abtei, und mit aufrichtigem Bedauern übergab Leif Mollnar seine drei Schützlinge in die Hände des Subpriors.
Als der Kapitän sich zum Gehen wandte, geschah etwas Seltsames. Anne hatte bei der Verabschiedung kurz gezögert, und als er jetzt zurücksah, war ihm, als würde das Mädchen von den Strahlen der aufgehenden Sonne eingerahmt und wie ein Heiligenbild mit Gold Übergossen. Einen Augenblick lang war er geblendet - dann winkte sie ihm aus dem Strahlenkranz zu und verschwand! Als er wieder richtig sehen konnte, wurde ihm klar, dass sie durch das sich schließende Tor der
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