Der Eid der Heilerin
die Tiere wählerisch einen Huf vor den anderen, doch schon kurz hinter der Abtei verlor sich der gute Zustand der Straße. Trotzdem trabten sie mit hoch erhobenen Köpfen und zuckenden Ohren munter vorwärts, wohl wissend, dass jeder Schritt sie dem heimatlichen Stall näher brachte.
Das Wetter war ihnen gewogen, und hoch oben am Himmel war sogar ein dünner, blauer Streifen zu erkennen. Anne und Deborah mussten sich an die kurze, schnelle Gangart ihrer Ponys erst gewöhnen. Die strubbeligen Tiere hatten schon lange keinen Striegel mehr zu sehen bekommen, aber in dem beißenden Wind beneideten die Frauen sie um ihr dickes Fell. Giles und seine Männer waren für den Ritt übers Moor besser ausgerüstet. Der Ritter trug einen mit Wolfspelz gefütterten, schwarzen Mantel, seine Begleiter waren mit dichten Gamaschen ausgerüstet und hatten sich dicke, selbstgewebte Wolldecken umgebunden.
Die Männer waren trotz ihres wilden, abenteuerlichen Aussehens sehr freundlich zu den Frauen und boten ihnen Haferbrot und gesalzenen Schafskäse aus ihren Satteltaschen an. Unterwegs sangen sie hohe, sehnsuchtsvolle Balladen in einer Sprache, die Anne nie zuvor gehört hatte. Sie verstand zwar die Worte nicht, aber sie spürte, was sie auszudrücken versuchten. Es waren Lieder von verlorener Liebe und Heimat. Die traurigen Klänge berührten sie tief, denn es war Edwards Antlitz, das sie bei den Weisen sah. Beim Gedanken daran, was ungesagt zwischen ihnen geblieben war und was vielleicht niemals ausgesprochen werden würde, krampfte sich ihr Herz zusammen.
In London ging Sir Mathew unruhig in seiner Studierstube auf und ab. In letzter Zeit litt er nachts oft unter Sodbrennen, wenn er beim Abendmahl dem schweren Burgunder zugesprochen hatte, was auch am Vorabend so gewesen war. Er war übermüdet, fühlte sich unwohl und machte sich Sorgen.
Am vergangenen Sonntag hatte er das Hochamt in der Abteikirche besucht und der Einweihung seines Abendmahlkelches beiwohnen können. Seine Freude jedoch wurde von großer Sorge überschattet, als er in die Schatzkammer geführt wurde, um zu sehen, wo der Kelch zwischen den Messen aufbewahrt wurde. Er bekam das Kästchen zu sehen, in dem Kelch und Schale ruhen würden, und kannte nun endlich auch den Ort, wo sich der Brief befand, der Annes Herkunft beweisen sollte.
Die Schätze der Abtei wurden in der Kammer der Pyxis aufbewahrt, die Teil eines weitläufigen, unterirdischen Gewölbes war, das unterhalb der Mönchszellen lag. Der Prior der Abteikirche war hocherfreut gewesen, Mathew die unermesslichen Reichtümer von Gold- und Silbermünzen, Dokumenten, Messbüchern und Juwelen zu zeigen. Gold, Mathews Gold, schien alle Türen zu öffnen - so einfach ließ sich das Problem lösen.
In der Kammer der Pyxis wurden auch die königlichen Regalien aufbewahrt - die Krone des Heiligen Stephan, der Reichsapfel und die Curtane, das Schwert der Gnade. Die eigentliche Pyxis enthielt Proben aller in England geprägten Gold- und Silbermünzen. Jedes Jahr wurde im Rahmen einer feierlichen Zeremonie die »Prüfung der Pyxis« durchgeführt. Dann wurden die Münzen herausgenommen, gewogen und geprüft, ob jemand im vergangenen Jahr die Münzen »gestutzt« und sie auf diese Weise entwertet hatte.
In der Kammer befand sich auch die berühmte, mit Menschenhaut überzogene Tür, die in das Domkapitel der Mönche führte. Der Prior wies Mathew stolz auf die staubige, zerschlissene Türbespannung hin, die all jenen zur Warnung diente, die den Schatz stehlen wollten. Jedes Wort, das der ehrwürdige Prior über die Diebe sagte, schnitt Mathew ins Herz. Auf seinem Rundgang entdeckte er in einer Gewölbenische auch eine Eichentruhe, auf die mit goldenen Nägeln die Worte »Henricus VI.« eingeschlagen waren. Die Truhe war neu, ihr Holz heller als das der alten, schwärzlichen Exemplare. Daneben stand eine weitere, noch hellere Truhe, deren Deckel in ähnlicher Weise mit den Worten »Edwar- dus IV.« versehen war.
Mathew hatte sich sehr interessiert gezeigt und viele Fragen gestellt. »Dann ist also alles, was sich hier in der Schatzkammer befindet, der Abtei übereignet worden?«
»Ja, Sir Mathew, Ihr befindet Euch in guter Gesellschaft. Viele bedeutende Männer des Reiches - Euch nun eingeschlossen - haben diesen heiligen Ort mit ihren Gaben beehrt. Hier, an dieser Stelle, steht seit mehr als siebenhundert Jahren, seit der Herrschaft Ethelberts des Sachsen und der Zeit des heiligen Augustinus, eine Kirche. Gott sei
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