Der Eid der Heilerin
Wetter schlechter geworden war, hatte sich die Ankunft von Giles Raby verzögert. Der heftige Schneesturm hatte selbst Whitby nicht verschont, obwohl so etwas an der Küste eher selten vorkam. Als Giles und seine Männer schließlich an die Klosterpforte klopften, waren sie halb erfroren, und selbst ihre kleinen, zottigen Ponys mussten sich vor der Rückreise erst einmal erholen.
Auf dem Ritt über das Hochmoor, den schneidend eisigen Wind ständig im Gesicht, war Giles über diesen unsinnigen Auftrag immer wütender geworden. Es war ihm von Anfang an merkwürdig vorgekommen, als er und seine Frau Alicia, Sir Mathews Tochter aus erster Ehe, die Nachricht erhalten hatten, sie sollten einer Lady und ihrer Dienerin den restlichen Winter über Quartier gewähren. Und Mathew hatte sie ausdrücklich angewiesen, den Nachbarn nichts von den Gästen zu erzählen. Giles hatte sich an Mathews fordernde, autoritäre Art gewöhnt, tat sich aber immer noch schwer, wenn Mathew sich in Entscheidungen einmischte, die Bur- ning Norton betrafen. Es war kein guter Sommer gewesen, und die Wintervorräte würden knapp werden, wenn zwei zusätzliche Mäuler zu stopfen wären. Möglicherweise mussten sie sogar eine ihrer kostbaren Zuchtkühe schlachten, da sie im Herbst weniger Fleisch hatten einpökeln können als im Jahr zuvor.
Im Gegensatz zu den übrigen Rabys war Giles kein Krieger, sondern besaß das Herz eines Bauern - und er war ein Geizkragen. Er und Sir Mathew tolerierten einander. Der Ältere sah, dass der Jüngere mit seinen Ländereien sorgsamer umging, als er selbst es gekonnt hätte. Widerwillig zollte er seinem Schwiegersohn Respekt für die Verwaltung von Burning Norton. Giles entwickelte ständig neue Ideen für die Veredelung des Viehbestandes. In den fünf Jahren, seit er das stetig wachsende Anwesen verwaltete, war es ihm gelungen, größere Schafe mit einem besseren Wollertrag zu züchten, als jeder angestellte Vogt es vermocht hätte. Es hieß, Giles hätte sogar die für ihre Verschwiegenheit berüchtigten Mönche von Rievaulx überreden können, ihm einige ihrer Zuchtgeheimnisse zu verraten, was zur Folge hatte, dass Burning Norton noch mehr florierte.
Trotzdem, oder gerade aus diesem Grund, mangelte es Giles an einigen der ritterlichen Tugenden seines Clans. Frauen, die sich die Zeit mit Reisen vertrieben, noch dazu im Winter auf dem Land, waren ihm ein Gräuel. Im Besucherzimmer der Abtei von Whitby wartete also ein reichlich griesgrämiger Mann, der nur einen Gedanken hatte: Ausruhen und dann möglichst schnell aus dieser verfluchten, stinkenden Stadt verschwinden, bevor das Wetter wieder schlechter wurde. Dann wurde Anne in das eiskalte Zimmer geführt, die lächelnd zu ihm aufsah und seine verdrießliche Stimmung dahinschmelzen ließ.
Giles gehörte zu jenen Männern, die eine Ehe aus Vernunft geschlossen hatten - Alice hatte eine große Mitgift und die Aussicht auf Landbesitz in die Ehe eingebracht, und er war ein nachgeborener Sohn doch dann hatte er festgestellt, dass er seine Frau liebte. Alice konnte nicht als schön bezeichnet werden, schlug sie doch ihrem Vater nach. Dieses Mädchen hingegen war schön, mehr als schön sogar. Sie war interessant.
Ruhig betrat sie den Raum. Sie trug ein schlichtes, dunkelblaues Samtkleid, dennoch entgingen ihm die mit Marderpelz üppig gesäumten Ärmel und die kostbare, zartgliedrige Kette an ihrem Hals nicht. Sie hatte eine niedrige Haube mit einem zarten, weißen Schleier auf, so dass ihre Haarfarbe nicht zu erkennen war, aber ihre klaren, edel geschnittenen Augen, die ihn so aufrichtig ansahen, besaßen die Farbe frischen Eichenlaubs mit blauen Sprenkeln.
»Sir Giles, mein Name ist Anne. Ich stehe tief in Eurer Schuld, dass Ihr Euch die Mühe dieses Ritts in eisiger Kälte gemacht habt. Sir Mathew ist mehr als gut zu mir gewesen, doch Ihr habt aufgrund der merkwürdigen Ereignisse, die mich hierher gebracht haben, die schlimmsten Unannehmlichkeiten auf Euch nehmen müssen.«
Sie machte einen fast demütigen Knicks, was Giles zutiefst verwirrte. Hofdamen und höfische Sitten waren ihm fremd - Alice fand, sie verbrächten zu viel Zeit auf dem Gut, weshalb er seine vornehme Herkunft vergessen habe -, aber die Anmut und Schlichtheit dieses Mädchen hätte selbst dem abgebrühtesten Höfling die Sprache verschlagen. Er stürzte vor, um ihr aufzuhelfen, und bemerkte überrascht ihre rauen Hände. Dieses Mädchen war keine exotische Blüte, der harte Arbeit fremd war.
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