Der Eid der Heilerin
sehr liebte. Seine Frau verstand, dass er von Anne geblendet war, und war, im Gegensatz zu den meisten anderen Ehefrauen, keineswegs eifersüchtig. Und warum auch? Warum eifersüchtig auf die Sonne sein? Anne gehörte nicht zu ihrem Leben, würde nie dazugehören. Sie war eine vorübergehende Erscheinung, und das wussten sie beide. Sie brauchte sich um seine Treue keine Sorgen zu machen. Er wusste das, und sie ebenfalls. Aber er war ein Mann, und er hatte Augen im Kopf.
Er starrte Anne an, ohne zu registrieren, dass Alicia sich räusperte. Dann räusperte sie sich noch einmal, diesmal etwas lauter. Er kehrte in die Gegenwart zurück und erinnerte sich seiner Pflicht. Er nahm Annes Hand, legte sie über die seine und geleitete sie zu dem Ehrenplatz an der Tafel, die an der Schmalseite der Halle aufgestellt worden war.
Unter ihnen stand die Dienerschaft - rund zwanzig Männer und Frauen - und beobachtete sie schweigend. Jede Einzelheit wurde begierig aufgenommen, um sie später ausführlich in Küche, Milchstube, Schmiede und Schafställen schildern und diskutieren zu können. Die Winter in Burning Norton waren weiß Gott ereignislos genug, und nun war da diese geheimnisvolle Lady, über die man sprechen konnte. Sie war so schön wie die Statue der heiligen Jungfrau in der Abtei von Rievaulx - sogar noch schöner, denn sie war aus Fleisch und Blut, während die Jungfrau lediglich aus Elfenbein und Gold bestand. Das Tischgebet wurde gesprochen, und kaum war das letzte »Amen« verklungen, nahmen die Dienstboten unter geräuschvollem Hin- und Herrücken ihre Plätze ein, und das Essen wurde aufgetragen.
Anne musste im Stillen lächeln. Es war seltsam, als Gast an der Ehrentafel zu sitzen und unter sich die Diener zu sehen. Vor gar nicht allzu langer Zeit war sie selbst eine von ihnen gewesen und hatte zum Tisch des Hausherrn hinaufgeblickt. Sie zitterte. Wie verrückt - so leicht konnte aus oben unten und aus unten oben werden. War es Gottes Fügung, an welcher Stelle jemand saß? Warum hatte er ihr diesen verwirrenden Stellenwechsel zugedacht? Sie fing Deborahs Blick auf, die bei den anderen Dienstboten saß. Vielleicht war es an der Zeit, wieder in die Schale zu schauen und die Zukunft zu befragen.
Zukunftsfragen beschäftigten auch Mathew Cuttifer in London, als er endlich die Schriftrolle in Händen hielt. Sie hatte ihn ebenso viel gekostet wie der Abendmahlkelch, den er der Abtei gespendet hatte, aber vielleicht war das Geld gut investiert. Trotzdem lauerten noch erhebliche Risiken, bevor er auf einen Gewinn hoffen konnte, zumindest dachte so der Kaufmann in ihm. Bruder Nicholas von der Abteikirche hatte sich heimlich und unter ernormem Einsatz von Kosten und Gefahren Einlass in die Kammer verschafft und dabei riskiert, entdeckt und peinlichen Fragen ausgesetzt zu werden. Als Mathew nun die sauberen, schwarzen Schriftzeichen betrachtete, fiel ihm noch etwas anderes auf. Der Brief war auf Englisch geschrieben, nicht auf Latein oder Französisch, wie er erwartet hatte. Sein Inhalt jedoch war eindeutig:
Unser lieber Bruder von Somerset sei gegrüßt. Da es dem allmächtigen Gott gefallen bat, uns mit der Herrschaft über das Königreich England sowie über alle innerhalb seiner Grenzen lebenden Seelen zu betrauen, ist es unser Wille, für das Wohl und Auskommen aller Seelen zu sorgen, die unserem Herzen nahe sind. Daher achtet diesen unseren Willen, wie er in diesem Schriftstück niedergelegt ist. Da Ihr aus unseren Händen sämtliche Länder der Grafschaft Somerset als Lehen erhalten habt, ist es unser Wunsch, Ländereien innerhalb der Gemeinde von Porlock in der Grafschafe Somerset für alle Zeit der Lady Alyce de Bohun und ihrer Nachkommenschaft, die unserem Herzen am nächsten stehen, zu übereignen.
Unser Wunsch lautet wie folgt:
Erstens. Dass der Flecken Wincanton the Less, einschließlich des dazugehörigen Ackerlands, einstmals im Besitz der Mönche von Appleforth, dem Landbesitz besagter Lady zu ihrem alleinigen Nieß und Nutzen und dem ihrer Nachkommen überschrieben werde.
Zweitens. Dass das Mühlrecht des Fleckens Wincanton the Less und die Mühle, Cobby's Mill geheißen, gleichfalls einst im Besitz der Mönche von Appleforth, besagter Lady zu ihrem alleinigen Nutzen und Profite auf alle Zeit überschrieben werde. Drittens. Dass die Abgaben aus dem Markt, der in jedem Jahr am letzten Mittwoch vor Sankt Michael in der Stadt von Taunton abgehalten wird, auf alle Zeit besagter Lady ausgezahlt und
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