Der Eid der Heilerin
der Wind den Regen ins Zimmer. In knapp zwei Stunden sollte er mit Elizabeth im großen Saal an den geplanten Festlichkeiten teilnehmen. Aber noch nie zuvor hatte er so wenig Lust aufs Feiern verspürt. Er sah und hörte nur noch Anne, wünschte sich, die Welt möge verschwinden, so dass er bei ihr sein und sie wieder in seinen Armen halten könnte. Niemals hatte er sich so allein und so unsicher gefühlt.
Schließlich gab er seinem Gefühl nach, griff seinen Biberpelzmantel und verließ seine Privatgemächer auf dem Weg, der nur wenigen bekannt war: durch eine in die neue Eichentäfelung eingelassene Tür, die zu einem in den dicken Außenmauern des Palasts verlaufenden Geheimgang führte. Er wollte sich noch einmal den Geschmack von Freiheit gönnen.
Anne kniete auf dem harten, blanken Steinboden der Marienkapelle. Endlich hatte sie sich dem Unvermeidbaren gestellt und etwas Frieden gefunden, denn ihr blieb keine andere Wahl. Ihre einzige Angst war, dass sie der Mut verlassen würde, wenn es soweit war. Sie wollte nur eins: die Zeit um zwei Tage zurückdrehen, als der König sie in seinen Armen hielt und jede seiner Berührungen wie Labsal für die Hungernden war.
Sie schloss die Augen und versuchte zu beten, stattdessen aber sang sie zärtlich seinen Namen. »Edward, Edward, Edward ...« War es Sinnestäuschung, als sie plötzlich seine Hände auf ihrem Körper spürte, seinen Geruch wahrnahm?
Nein. Diese Hände waren Wirklichkeit - er war da! Überrascht sprang sie auf und wäre fast gestolpert, doch er fing sie auf, drückte sie an seine Brust, hielt sie fest und streichelte ihren Rücken, so sanft, als beruhigte er einen seiner Jagdhunde. Still, wie in einen warmen Nebel gehüllt, stand sie da, dann hob sie das Gesicht und empfing seine Küsse, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Wie er den Geschmack dieses Mundes liebte und wie es ihn aufwühlte, ihren Körper an seinen zu pressen. Aber schon bald war es Zeit für das Komplet, und die Mönche würden in die Kirche strömen. Sie durften nicht entdeckt werden.
»Komm mit mir ...« Er hastete mit ihr durch ein spärlich beleuchtetes Seitenschiff und suchte nach dem Zugang zum Kloster. Es war sehr dunkel, nur vereinzelte Fackeln flackerten in ihren Halterungen. Aber Edward war wieder zu dem kleinen Knaben geworden, der mit seinen Brüdern Verstecken spielt. Er nahm eine Fackel von der Wand, hielt Anne fest an der Hand und tastete sich weiter, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.
In einer Ecke, dem uneingeweihten Auge verborgen, befand sich ein kunstvoll geschmiedetes Gitter mit einem ringförmigen Griff. Er reichte Anne die Fackel und drehte den Ring mit aller Kraft. Die Scharniere protestierten quietschend, ehe sie der übermächtigen Gewalt nachgaben und Edward die Tür einen Spaltbreit öffnen konnte. Dahinter erschien im Schein der Fackel ein unerwartet breiter Treppenabgang, der sich nach unten in der Dunkelheit verlor.
»Hierher sind wir oft gekommen, Richard,- George und ich, wenn unsere Eltern bei Hof weilten und wir uns langweilten ...« Er hielt die Fackel hoch, und sie stiegen die Stufen hinab.
Anne sah, dass sie in einem großen, fensterlosen Gewölbe standen. In den Wänden befanden sich Nischen mit steinernen Särgen, und vor ihnen, auf einem verzierten, steinernen Podest, thronte ein großer Marmorsarg mit zwei geschnitzten Figuren darauf: ein Kreuzritter, wie die Rüstung verriet, und seine Frau.
»Sieh ihre Hände ...«, sagte Edward leise.
Im ersten Moment erkannte Anne nicht, was er meinte, doch dann hielt er die Fackel näher heran, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Zweihundert Jahre war es her, dass dieser Mann und seine Frau Hand in Hand in die Ewigkeit gegangen waren. Und als sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass ihre Gesichter einander zugewandt waren. Seit zweihundert Sommern und zweihundert Wintern hatten diese steinernen Augen in das geliebte Antlitz des anderen geblickt.
Reglos stand er, den Arm um ihre Taille geschlungen, neben ihr. »Ich wollte sie dir zeigen. Ich wusste nicht, was sie einander bedeuteten, bis du in mein Leben getreten bist.« Hilflos wandten sie sich einander zu, und er hielt sie fest, als sie schluchzte. Tränen liefen auch ihm übers Gesicht - er hatte seit dem Tod seines Vaters nicht mehr geweint...
Edward wusste, dass sie nur eine Stunde hatten und dass sie der Lösung ihrer Probleme keinen Schritt näher waren. Er liebte sie und wollte ihr vertrauen, doch jahrelange
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