Der Eid der Heilerin
Prunk sei der König ein gerissener Politiker, der nichts tue, was ihm nicht zum Vorteil gereiche. Solche Gedanken bedrückten Margaret, obwohl auch sie sich vom Glanz dieses Tages erhoben fühlte.
Dieser neue König war so ganz anders als der glücklose Henry VI., den er entmachtet hatte. Edward machte einen offenen Eindruck und schien die Nähe zu seinen Untertanen zu genießen, wohingegen Henry am Ende seiner Regierungszeit dermaßen von seiner verhassten französischen Frau beherrscht worden war, dass er schließlich, von seinem Volk isoliert, ein wahres Einsiedlerdasein geführt hatte.
Irgendwann war der Unmut vieler alter Adelsfamilien angesichts des Einflusses der französischen Königin übergekocht, die den Zugang zu ihrem Mann streng kontrollierte und das Land zu ihrem Vorteil und dem ihres Liebhabers Somerset ausbeutete. Der alte Adel verbündete sich mit dem von Edwards Vater, dem Duke of York, angeführten, alternativen Königshaus.
Die Yorkisten gewannen die Oberhand - Somerset war tot, Henry VI. hatte sich versteckt, und Margaret von Anjou war geflohen. Trotzdem waren immer noch Teile des Landes verwüstet, als wären ganze Wolfsrudel auf die Menschen losgelassen worden. Nun waren es die Adligen selbst, die das geplagte Volk und den niederen Adel ausbluteten und sich gegenseitig um ihres Vorteils willen bekämpften. Wie dieser junge König, von dem es hieß, er neige mehr dem Vergnügen als dem Regieren zu, die Angelegenheiten seines Königreichs regeln konnte oder wollte, war bisher noch nicht abzusehen.
Margaret zitterte, jedoch nicht vor Kälte. Das Ganze dauerte schon viel zu lang. Vor über zehn Jahren war ihre Familie gezwungen gewesen, sich zu entscheiden, auf welche Seite sie sich in den bevorstehenden politischen Unruhen schlagen wollte. Zu seinem großen Glück hatte ihr Vater sich zu den Yorkisten bekannt. In der Schlacht von Wakefield, wo Edwards Vater und sein jüngerer Bruder gefallen waren, hatte er sogar für sie gekämpft. In der bitteren Kälte des Jahreswechsels schien damals alles verloren zu sein.
Nun hatte es den Anschein, dass dieser neue König die Loyalität, die Margarets Familie in schwierigen Zeiten bewiesen hatte, durch die öffentliche Ehrung Mathews belohnen wollte. Indem er in seinem Haus speiste und ihm erlaubte, im Namen der Heiligen Jungfrau Almosen zu spenden, zeigte er aber auch, dass er auf die Unterstützung reicherer Untertanen angewiesen war, wenn er sein nahezu bankrottes Königreich regieren wollte. Dies allein war genug Grund zur Sorge. Margaret fürchtete, dass manche bei Hof ihnen die königliche Gunst dieser Stunde neideten.
In den Augen des Hofes musste es ein alarmierendes Vorzeichen sein, dass Mathew Cuttifer das Leben von zwölf armen Männern - zwölf wie die Anzahl der Apostel - bereichern durfte, und dies mit dem Segen des Königs und an Mariä Geburt. Ein König, der die Kaufleute über seine traditionellen Verbündeten, den Landadel, stellte, musste scharf im Auge behalten werden. Denn wer konnte wissen, wen er als Nächstes in seiner Gunst steigen ließ? Oder wen er verstieß?
Die Vertreter der zwölf Apostel sahen an diesem Tag wahrlich erbärmlich aus. Dicht aneinander gedrängt standen sie da, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Mit eitrigen Augen und zusammengepressten, zahnlosen Münder sahen sie das königliche Gefolge auf sich zukommen, und da sie ihr langes Leben allein ihrer Durchtriebenheit zu verdanken hatten, sanken sie allesamt auf die Knie und priesen den König und ihren Wohltäter, Mathew Cuttifer.
Master Mathew musterte sie angewidert und bekreuzigte sich hastig. Fast hätte er Gott gelästert, wenn auch nur in Gedanken. Dieser erbarmungswürdige Abschaum der Menschheit stand für den Erlöser, dem er größten Dank schuldete. Er wollte sie wie seine Brüder in Christi behandeln und sich dies zur Ehre anrechnen. Also trat er vor und drückte dem ersten der stinkenden, alten Männer einen herzlichen Kuss auf die Stirn, wobei er tapfer eine aufsteigende Woge der Übelkeit unterdrückte, hervorgerufen von muffigem Altmännerfleisch und zerschlissenen Fetzen. Aber er spürte die Blicke Gottes und die seines Königs, der direkt hinter ihm stand.
Anne und Deborah standen auf den Stufen zur Kathedrale weiter hinten in der Menge, als Mathew die zwölf Alten beschenkte und segnete.
»Er ist ein guter Mann«, stellte Deborah fest.
»Ja, das ist er«, erwiderte das Mädchen abwesend.
»Ich meine deinen Herrn, Anne.«
Die
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