Der Eid der Heilerin
auch, welche Demütigungen Aveline in den vergangenen Wochen hatte auf sich nehmen müssen - eine Quelle bitterer Tränen, die das Mädchen in der Abgeschlossenheit ihres winzigen Zimmers vergoss, obschon sie ihr Bestes tat, dies vor Anne zu verbergen.
Mathew Cuttifer hatte Avelines Vater ausfindig gemacht, um mit ihm über einen Ehevertrag zu sprechen. Dieser hatte sich bereit erklärt, zur Hochzeit zu kommen. Er war ein Ritter, aber ohne Vermögen und nicht in der Lage, seine uneheliche Tochter in irgendeiner Form finanziell zu unterstützen. Nachdem die beiden Männer quasi zum Schein verhandelt hatten, einigten sie sich auf eine nicht unbedeutende Abfindungssumme, die im Wesentlichen von Mathew getragen wurde. In Wahrheit brachte Aveline nichts in die Ehe ein, nicht einmal einen ehrbaren Namen. Entsprechend dürftig und einseitig fiel die Vereinbarung aus. Trotzdem würde sie im Fall von Piers' Ableben ein bescheidenes Auskommen haben, gerade so, als hätte sie eine Mitgift in die Ehe eingebracht. Lady Margaret hatte sogar das Hochzeitsgewand gestiftet - ein schweres, rotes Samtkleid mit pelzbesetztem Kragen. Mit Annes kundiger Hilfe war es geschickt abgeändert worden, so dass es trotz ihres Gewichtsverlustes passte. Und auch dies stellte eine Demütigung dar.
Es war an der Zeit, mit dem Tagwerk zu beginnen. Anne setzte die Messingschüssel mit heißem Wasser auf die kleine Holztruhe neben Avelines Bett - auch diese war ein Geschenk der Cuttifers - und weckte die zukünftige Braut.
Aveline bemerkte, dass Anne etwas hinter ihrem Rücken verbarg. »Was gibt es, Mädchen? Was versteckst du vor mir?« Aveline bemerkte ihren künstlichen Tonfall. Es würde sie noch einige Übung kosten, wie eine richtige Herrin zu sprechen.
»Mistress ... Aveline ... ich habe Euch etwas mitgebracht. Zur Feier des Tages.« Zaghaft hielt Anne ihr einen Strauß Schneeglöckchen entgegen, deren frischer Duft den kleinen Raum erfüllte.
Aveline seufzte und schloss die Augen, als Tränen hinter ihren Lidern zu brennen begannen. Es war an der Zeit, endlich Frieden mit Anne zu schließen - sie würde bald auf Freunde angewiesen sein. »Ich danke dir. Das ist wirklich sehr aufmerksam.«
Es klang schroff, war aber aufrichtig gemeint, und das genügte Anne.
Schüchtern lächelten die beiden Mädchen einander an. Anne machte einen kurzen, anmutigen Knicks und breitete das rote Kleid aus, das die ganze Nacht an einem Haken neben der Tür gehangen hatte. Das Kleid, das den Beginn eines gänzlich anderen Lebens für Aveline bedeutete.
Anne betrachtete Piers' zukünftige Frau beim Aufstehen. Auch wenn sie erschreckend dünn war, sah sie wunderschön aus. Und Anne sah noch etwas anderes: eine stolze, anrührende Anmut. Ihre Arme waren so zart, dass sie ohne weiteres von einem kräftigen Mann hätten gebrochen werden können, ihr Kopf aber saß aufrecht auf ihrem langen Hals, und der blutrote Samt unterstrich ihre weiße Haut und ihre glänzenden dunklen Augen. Sie sah atemberaubend aus und hätte sich mit jeder Hofdame messen können.
Aveline trug ihr Haar offen, wie es der Brauch bei Bräuten verlangte. Es fiel bis zu den Hüften, und Anne gab sich große Mühe mit dem Bürsten - Lady Margaret hatte ihr ihre kostbare Rosshaarbürste geliehen. Und dann zerstieß sie einige Geranienblüten und rieb damit Avelines Wangenknochen und Lippen ein, um ihrem weißen Gesicht ein wenig Farbe zu verleihen.
Untätig ließ Aveline die Vorbereitungen über sich ergehen und registrierte kaum das Gesicht, das ihr aus dem glänzenden Silberspiegel, dem wertvollen Hochzeitsgeschenk von Margaret, entgegenblickte. Ein verschwommenes, ovales Gesicht, dunkle Augen, ein starrer, roter Mund und über dem glänzenden Samtausschnitt ein weißer Brustansatz mit den bläulichen Verästelungen der Milchadern.
Aveline zitterte heftig. Übelkeit befiel sie, und sie musste sich setzen. Den Kopf zwischen die Knie gebeugt, ließ sie den Speichel aus dem Mund auf ein Leinentuch tropfen, das Anne ihr hastig in die Hand gedrückt hatte. Als es vorüber war, konnte Aveline wieder ruhiger atmen. Anne reichte ihr mitfühlend die Hand und half ihr auf. Es war Zeit zu gehen und Piers gegenüberzutreten - und all den anderen.
Unten in der Kapelle drängten sich Hausbewohner und Ehrengäste und warteten mit einer Mischung neugieriger Erwartung und Neid, aber auch einer gewissen Aufregung auf das Erscheinen der Braut.
Margaret wartete in ihrer Bank beim Altar. Im Türrahmen der
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