Der Eid der Heilerin
gespielt, die von höfischer Liebe und unsterblicher Hingabe handelten. Doch als das Fest voranschritt und ein Gang dem anderen folgte - über dreißig verschiedene Speisen waren serviert worden -, waren die Lieder immer schneller und derber geworden.
Die Stimmung im Saal schlug um, und alle warteten gespannt auf den Moment, wenn Aveline und Piers offiziell zu ihrem Schlafgemach geführt werden würden. Der kurze Wintertag neigte sich seinem Ende zu, und wenn die Dunkelheit hereinbräche, würden die Gäste ihre Zurückhaltung rasch vergessen, wie alle sehr wohl wussten. Margaret, die andere Pläne hatte, konnte nicht verhindern, dass einer der Musikanten vor der Braut niederkniete und eine bekannte Weise anstimmte, die von der Keuschheit und der Not des Ehemannes handelte, der die Lust seines Weibes in Schach halten musste, um nicht selbst davon verzehrt zu werden.
Begeistert stimmte die Gästeschar in den immer wilder werdenden Refrain ein. Aveline erstarrte vor Verlegenheit, als ihr frisch gebackener Ehemann ebenfalls einstimmte - und grölende Zustimmung erntete. Allerdings nahm Aveline als Einzige den scharfen Unterton wahr, als Piers von der Liederlichkeit der Frauen sang, die allerorts mit teuflischer Macht fromme Männer zu einem ausschweifenden Leben verführten.
Der Höhepunkt des langen Festtages konnte nun nicht länger hinausgeschoben werden: Braut und Bräutigam sollten zum Ehelager geführt werden. Als Aveline aufstand, eilte Anne herbei und richtete den Wurf ihrer Schleppe. Auch Lady Margaret erhob sich, um die Braut zum Gemach ihres Mannes zu geleiten, wo ein Bett mit edlen, neuen Tüchern, dem Geschenk des Königs, gerichtet war.
Still und reglos ließ Aveline Annes Bemühungen über sich ergehen, doch als Lady Margaret mit einem Kranz aus frischen Blumen neben sie trat, um die Braut zu krönen, bröckelte Avelines eiserne Fassung für einen Augenblick, und Anne sah, dass sie den Tränen nahe war. Doch dank ihrer einfühlsamen Art gelang es Margaret, die Situation gerade noch zu retten. »Beuge dich ein wenig nach vorn, Aveline. Du weißt ja, wie klein ich bin. So weit reiche ich nicht hinauf.« Es war ein taktvoller, kleiner Scherz, denn sie waren beinahe gleich groß, doch auf diese Weise zeigte Margaret ihr, dass sie verstand und dem gequälten Mädchen die Ehre erweisen wollte.
Das genügte. Aveline senkte den Kopf und atmete ein paar Mal tief ein. Als die Blumen an Ort und Stelle waren, nahm ihre Schwiegermutter sie freundlich an die Hand. Ihr Griff war stark, ruhig und tröstend. Anne nahm die Schleppe, und Margaret geleitete Piers' Braut zur großen Treppe, die von der Halle in die oberen Stockwerke des Hauses führte.
Eine Traube von Damen folgte ihnen mit einigem Lärm. Lautstark wurde darüber spekuliert, dass diese erste Nacht bei so einer schönen Braut und einem so männlichen, gut aussehenden Ehemann gewiss lang werden würde. Aveline schwieg. Vor ihr erhob sich die Treppe wie ein riesiger Berg aus Stein, die schmalen Schieferstufen verflüchtigten sich im Dunkeln, obwohl überall Fackeln brannten.
Nach den Damen kamen die Musikanten. Sie spielten und sangen den ganzen Weg, sorgsam darauf bedacht, nicht über die Stufen zu stolpern. Ihnen folgte eine Schar junger Edelmänner vom Hof und aus der Stadt, die Piers lärmend in ihre Mitte genommen hatten. Ihre derben Bemerkungen über die Anmut der Damen vor ihnen auf der Treppe hatten einen unangenehmen Unterton. Viele spürten trotz ihrer Trunkenheit, dass hinter all den Späßen etwas nicht in Ordnung war. Andere behaupteten später, es sei ihnen nie wie eine richtige Hochzeit vorgekommen, auch wenn viel Geld für das Fest ausgegeben worden sei.
Als Anne zufällig nach unten sah, bemerkte sie in den Augen des Bräutigams ein gefährliches Glitzern. Er hatte den ganzen Tag lang einen Becher nach dem anderen geleert, wirkte aber nicht betrunken. Als die Damen um Aveline den oberen Treppenabsatz erreichten und sich auf den Weg zu Piers' Zimmer machten, sah er ihnen starren Blickes hinterher.
John hatte überall Kerzen entzündet und das Zimmer mit Immergrün und Stechpalmenzweigen geschmückt. Als die Damen eintraten, um die Braut zu Bett zu bringen, betrachtete er gerade bewundernd sein Werk. Er hatte Aveline nie besonders gemocht, weil sie so hochnäsig sein konnte, aber er hielt es auch nicht mit den anderen Dienstboten, die sich entweder über ihr unverdientes Glück ärgerten oder über sie lästerten, weil es ihr gelungen
Weitere Kostenlose Bücher