Der Eid der Heilerin
könnte. Und jetzt, zieh dein Hemd hoch«, sagte er scharf.
Lag es an seinem Tonfall oder an der Erwähnung des Königs, dass Anne doch gehorchte? Sie zog möglichst sittsam das weiche, verwaschene Leinenhemd hoch, wenn auch nur an einer Seite, so dass lediglich ein Arm und eine Schulter entblößt waren.
»Und jetzt heb deinen Arm.« Seine Finger tasteten über seidige, sahnige Haut und berührten das zarte Haar in den Achselhöhlen. Sie besitzt einen anmutigen Körper, dachte er. Sein Herr fand bestimmt Gefallen an seiner Schilderung. Und sie hatte Recht, unter der Haut war keine Schwellung zu tasten. »Die andere Seite, bitte.« Betont höflich kehrte er ihr den Rücken zu, als sie tat wie geheißen.
»Ihr mögt Euch jetzt umdrehen«, sagte Anne, als sie fertig war. Er gehorchte und untersuchte ihre andere Achselhöhle. Auch hier war nichts zu sehen.
»Wenn Mistress Jassy wiederkommt, werde ich ihr ein Rezept für eine Tinktur dalassen - aber erst, nachdem ich dein Wasser untersucht habe.«
Er trat ans Fenster und öffnete es, während das Mädchen seine Kleidung richtete. Tief unter ihm befand sich der Fluss, und in der Ferne konnte er ein paar Lichter ausmachen. Die letzten Kähne ruderten mit späten Fahrgästen auf die Flussbiegung zu, hinter der die Stromschnellen unterhalb der London Bridge lagen. In der Nähe sah er die wuchtigen Umrisse des Palasts mit den zahlreichen Lichtern. Er sollte hier bald zum Ende kommen, wie verlockend seine kleine Patientin auch sein mochte. Er durfte dem Palast nicht allzu lange fern bleiben, da schon bald der königliche Balg zur Welt kommen konnte. Wo blieb nur diese verdammte Alte?
»Ich habe gehört, Blessing House hat einen neuen Bewohner - ein Enkel für Master Mathew, wenn ich richtig informiert bin?« Die Kleine wusste die Ehre, die ihr zuteil wurde, wohl kaum zu schätzen. Gewöhnlich waren Herzoginnen oder mindestens mit einem Baron verheiratete Damen das Ziel seiner höflichen Plaudereien.
»Ja, Sir, das ist richtig. Der kleine Edward wurde vor wenigen Wochen geboren, und heute fand der Dankgottesdienst für seine Mutter statt.«
»Ach, dann hat der König dort deine Unpässlichkeit bemerkt?«
Anne errötete. »Er war in der Tat so freundlich zu bemerken, dass mir nicht wohl war.«
»Und ich bin gekommen, um dich wieder gesund zu machen.« Wo blieb nur die Alte? Langsam ging ihm der Gesprächsstoff aus. Gepflegtes Geplauder war bei diesem Mädchen nicht einfach - sie sah ihn zu direkt an. Sollte es der König tatsächlich auf sie abgesehen haben, hatte er womöglich einen schweren Stand. Sie entsprach nicht gerade seinem üblichen Frauentyp. Vielleicht war sie einfach noch zu jung und unschuldig, um zu verstehen, worum es ging.
Mitleid regte sich in ihm, aber der Moment ging schnell vorüber. Der König war immer sehr großzügig. Falls er sich mit diesem Kind einließ, zeigte er sich gewiss nicht von seiner schlechtesten Seite, und seine Gunst konnte durchaus zu ihrem Vorteil sein. Vielleicht fädelte er eine nützliche Heirat mit einem Untergebenen ein, einem höher gestellten Diener bei Hof zum Beispiel, der seinen Vorteil zu nutzen wusste ...
Er schüttelte den Kopf, seine Gedanken schweiften ab. Verflucht, wo blieb nur diese Frau? Er vergaß das Mädchen und trommelte mit den Fingern auf das Fenstersims. Was konnte er tun, um die Gunst der Königin zu bewahren? Der Schlüssel war natürlich eine erfolgreiche Geburt mit einem Minimum an Aufregung - ja, einem Minimum an Aufregung und Schmerzen, soweit es in seiner Macht stand.
Anne spürte die Ungeduld des Arztes und verzagte. Was würde er dem König berichten, wenn er nach Westminster zurückkehrte? Doch dann schalt sie sich. Der König war ver heiratet. Es stand ihr nicht zu, irgendwelche persönlichen Gefühle für ihn zu hegen. Es war außerordentlich freundlich von ihm, ihr seinen Leibarzt zu schicken, aber das war alles. Aber wenn sie es sich genau überlegte, war es trotzdem merkwürdig. Warum war er so freundlich zu ihr? Damals, bei dem Fest, hatte sie seine warmherzige Ausstrahlung förmlich überwältigt, aber auch sein grausames Verhalten gegenüber Corpus hatte sie nicht vergessen. Und nun ... ihre Gedanken wurden von Jassy unterbrochen, die mit einem großen Nachttopf in der Hand hereinstürzte.
»Hier, mein Kind, tu, was der Doktor dir gesagt hat.« Die Haushälterin drückte Anne den Topf in die Hand, zog das widerstrebende Mädchen aus dem Bett, legte eine Bettdecke um ihre Schultern
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