Der Eid der Kreuzritterin - Jordan, R: Eid der Kreuzritterin
Mädchen ohnehin ansprechen wollen und war nun recht froh, durch die Behandlung der Vierbeiner zwanglos mit ihm ins Gespräch zu kommen.
»Wird Nikolaus wohl noch predigen?«, fragte sie. »Ich habe ihn heute Morgen nicht gehört, es waren so viele Kinder zu versorgen.«
Auch am Vortag hatte Konstanze der Predigt nicht lauschen können – sie hatte den Bischof und die Oberin auf dem Domplatz gesehen und sich schleunigst in eine Seitenstraße davongemacht.
Nun brannte sie darauf, den kleinen Prediger zum ersten Mal zu erleben.
Gisela nickte. »Ich denke schon, es ist ja hier wohl die letzte Möglichkeit. Der Erzbischof will uns auch segnen – das wird jedenfalls erzählt. Er hat Boten nach Rom geschickt, heißt es außerdem. Er möchte wissen, ob der Heilige Vater dieses … Vorhaben gutheißt.«
Konstanze hatte wieder mal ein etwas schlechtes Gewissen. Sie hätte dazu beitragen können, die Kinder aufzuhalten. Schließlich sah sie jetzt schon, wie sehr das Unternehmen vor allem die Kleinen überforderte. Sie hatte an diesem Tag bereits Dutzende blutender Füße verbunden – und dabei hatte der Kreuzzug noch gar nicht richtig begonnen. Viele Kinderbesaßen keine oder nur leichte Schuhe, absolut ungeeignet für die Wege, die vor ihnen lagen.
»Sei jetzt mal still!«, unterbrach Rupert Giselas Ausführungen. Er hatte sich eben wieder zu den Mädchen gesellt. »Da oben ist Nikolaus! Mit dem Bischof! Und sieh nur, er hat eine neue Kutte!«
Tatsächlich betrat der kleine Prediger eben die Stufen zum Dom, wie immer gefolgt von ein paar jungen Mönchen. Bisher hatte er stets ein graues Pilgerkleid getragen – ähnlich dem, das Dimma Gisela aufgedrängt hatte. Heute erschien er jedoch in strahlendem Weiß. Und auf der Brust der Kutte prangte ein seltsames Symbol.
Armand, der bislang ziellos durch die Reihen der Kinder vor dem Dom gestrichen war – er kannte die Predigten längst und fand die Reaktionen der Zuhörer darauf inzwischen viel interessanter als die Inhalte –, ließ der Anblick alarmiert verharren.
Über die Schultern eines dunkel gekleideten Mädchens mit üppigem dunklem Haar hatte er gute Sicht auf Nikolaus und die Mönche. Ob sich auch die Predigt des Kleinen verändert hatte? Aber nein, die engelsgleiche Stimme erzählte dieselbe Geschichte wie sonst.
»Was hat er denn da für ein Zeichen auf dem Kleid?«, fragte eine helle Stimme.
Armand erkannte sie sofort – das Mädchen vom Pferdemarkt! Aber jetzt trug es tatsächlich Pilgerkleidung. Unter dem breitrandigen grauen Hut quoll feines, lockiges Haar in einem satten Honigblond hervor.
»Sieht aus wie ein Buchstabe. Ein T.«
»Ein Tau«, bemerkte das andere Mädchen wie nebenbei. Im Gegensatz zu Gisela schien es von der Predigt gefesselt zu sein. »Der neunzehnte Buchstabe im griechischen Alphabet!«
Armand war beeindruckt. Und sah seine Chance, mit den Mädchen ins Gespräch zu kommen.
»Es ist auch ein Kreuz«, mischte er sich ein. »Tatsächlich das ursprüngliche. Die Römer pflegten die Verurteilten an einen Pfahl mit Querbalken zu nageln oder zu binden.«
»Ach ja?« Das dunkelhaarige Mädchen wandte sich interessiert um. Armand registrierte ein schmales, kluges Gesicht mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und tiefblauen Augen. Noch eine Aristokratin. »Das wusste ich nicht. Warum bilden wir es dann anders ab? Wegen der Tafel? INRI?«
Armand nickte. »Das kann sein. Wenn man noch eine Tafel mit dem Grund für die Verurteilung anbringt, kommt unsere Kreuzform zustande. Allerdings …« Er zögerte, aber dieses Mädchen schien wissenschaftlich interessiert zu sein. Es lauschte ihm jetzt aufmerksamer als dem Jungen vor dem Dom. »Eine Ordensschwester aus Britannien erzählte mir einmal, in ihrer Heimat habe man das Kreuz auch schon vor Christus verehrt. Als Sonnenzeichen. Irische Missionare hätten dann beide Bilder vermischt, und das sei der Ursprung.«
»Aber dann wäre es doch ein heidnisches Symbol!«
Das blonde Mädchen unterbrach ihn. Mit leichtem Tadel in der Stimme. Es wandte sich jetzt ebenfalls um, und Armand blickte fasziniert in sein schönes Gesicht. Sein Ausdruck schien zunächst etwas unwillig, aber bei Armands Anblick wurde er weicher. Offensichtlich gefiel dem Mädchen, was es sah. Armand wollte ihm zulächeln, hielt es dann aber für klüger, es erst mal zu besänftigen.
»Ich kann nichts Böses daran erkennen, den Herrn mit der Sonne gleichzusetzen. Ist nicht auch Jesus das Licht der Welt?«, fragte er
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