Der Eid der Kreuzritterin - Jordan, R: Eid der Kreuzritterin
Schlaf. Er atmete regelmäßig, seine zartroten Lippen waren leicht geöffnet und gaben den Blick auf seine kleinen schneeweißen Zähne frei. Magdalena hatte nie ein so vollkommenes Gesicht gesehen. Sie wollte es wirklich küssen – und sie hatte es sich weiß Gott verdient!
Ohne den Mönch zu fragen, trat sie leise näher, beugte sich über das schlafende Kind und drückte einen Kuss auf seine Wange.
Der Mönch riss sie zurück, als habe sie den Jungen verbrüht.
»Was wagst du!«
Er hielt inne, als Nikolaus sich rührte.
»Bruder Bernhard?«, fragte die süße Stimme.
Der Mönch wollte etwas erwidern, aber Nikolaus hatte dieAugen schon geöffnet. Schlaftrunken sah er in Magdalenas Gesicht.
»O nein, mein Engel«, flüsterte er. »Wie schön, dass du mich besuchst … oh, schönster Herr Jesu …«
Damit schlief er wieder ein. Magdalena war wie verzaubert.
»Er hat seinen Engel in mir gesehen …«
Sie spürte gar nicht, wie brutal Bruder Bernhard sie aus dem Zelt zerrte und aus dem Zentrum des Lagers schob. Erst als sie sich wieder durch die Menge der schlafenden Kinder schob, fühlte sie erneut den Regen auf ihrer Haut. Aber es war nicht unangenehm. Es war richtig. Es wusch die Schande ab.
Kapitel 6
Als Nikolaus endlich Straßburg im Elsass erreichte, war sein Heer auf zwölftausend Personen zusammengeschrumpft. Dabei war das Wetter wieder besser geworden, und die Kinder freuten sich obendrein über eine gute Nachricht. Der Papst hatte endlich von ihrem Kreuzzug erfahren und das Unternehmen nicht verurteilt.
»Unterstützt hat er es aber auch nicht«, berichtete Konstanze, die Nikolaus’ Rede auf den Stufen des Straßburger Münsters gehört hatte.
Giselas kleine Gruppe lagerte etwas weiter entfernt am Ufer der Ill. Hier gab es weniger Taschendiebe, es war ruhiger, und im Gegensatz zu dem gepflasterten Münsterplatz sprach hier nichts dagegen, die Zelte aufzustellen.
»Tatsächlich sagte er:«, fuhr Konstanze fort, »›Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, das Heilige Land zu erobern!‹ Das ist zwar schön und gut, besagt aber gar nichts.«
»Was soll es denn besagen?«, fragte Rupert. Er war stets unwillig, wenn Kritik an Nikolaus und dem Kreuzzug aufkam – oder wenn gar jemand an seinem Gelingen zweifelte.
»Da fällt mir einiges ein«, bemerkte Konstanze und schöpfte Wasser aus der Ill. »Er könnte zum Beispiel die Bevölkerung und den Klerus der Städte und Dörfer am Wege auffordern, uns zu unterstützen. Dann müssten wir nicht mehr hungern.«
»Müssen wir im Moment doch auch nicht!«, gab Rupert fröhlich zurück und biss in einen Krapfen.
In Straßburg wurden die Kinder endlich mal wieder freigebigversorgt – wofür allerdings nicht der sehr skeptische Klerus, sondern zwei rivalisierende Patriziergeschlechter verantwortlich waren. In Straßburg bekriegten sich die Familien Müllenheim und Zorn, und kaum hatte die eine der Sippe ein paar Brote für die Kinder gespendet, da eröffnete die andere Suppenküchen. Schließlich gab es Nahrung im Überfluss, und Nikolaus wurde erneut gefeiert wie ein Messias.
Auch neue »Unschuldige« liefen dem Kreuzzug wieder zu – allerdings waren die Straßburger Bürger auf der Hut. Die Kunde von Nikolaus’ Mission hatte sie früh genug erreicht, um dafür zu sorgen, dass ihre Kinder und Lehrlinge zu Hause blieben, wenn der Knabe predigte. Dem Kreuzzug schlossen sich also nur arme Kinder und Bettler an – alle kaum ausreichend gerüstet für die Alpenüberquerung, die vor ihnen lag.
Eine wahrhaft alarmierende Kunde brachte jedoch Armand. Er hatte die Gruppe für einen Tag verlassen, um die Komturei der Templer am Ort aufzusuchen. Seine Berichte waren dort mit Interesse aufgenommen worden, man würde sie an den Großkomtur weiterleiten. Aber auch die Templer hatten Neuigkeiten, die das Kinderheer betrafen.
»Es gibt zwei Kreuzzüge!«, brach es aus Armand heraus, kaum dass er sein Pferd versorgt und am Lagerfeuer Platz genommen hatte.
Er warf Dimma einen wohlgefüllten Beutel zu. Armand hatte Küche und Keller der Komturei geplündert. An diesem Abend trank man besten Rheinwein am »Minnehof der Herrin Gisela von Bärbach«. So hatte Armand das Zeltlager scherzhaft getauft, das sie nun stets nach dem gleichen Muster errichteten: ein Lagerfeuer in der Mitte, darum herum ihre fünf Zelte – und eine extra ausgehobene Latrine direkt hinter dem Zelt der Frauen. Gisela, Konstanze und Dimma schimpften
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