Der Eid der Kreuzritterin - Jordan, R: Eid der Kreuzritterin
das sicher dahinschritt. Er fuhr zusammen, als es plötzlich aufschrie und zum Abgrund deutete. Armand musste sich zwingen, hinzusehen – ihm bot sich ein Bild des Grauens. Zwischen sich auflösenden Nebelschwaden zeigte sich ein Felsplateau, auf dem die zerschmetterten Leichen von vier oder fünf Jungen lagen.
»Schaut nicht hin, Kinder!«, presste Armand hervor und schob sich weiter, während Dimma ihren Schützlingen die Augen zuhielt. Irgendwann musste dieser Weg enden!
Aber dann, als die Reisenden schon Hoffnung schöpften, da sich der Pfad zu verbreitern schien, brach Konstanze das konzentrierte Schweigen der Wanderer.
»Wartet mal! Halt! Ich höre was. Da … da weint etwas. Der gleiche Ton wie heute Nacht.«
Vorsichtig beugte sie sich in Richtung des Abgrunds vor und entdeckte einen Felsvorsprung vielleicht acht Längen unter ihnen.
»Da ist ein Kind!«, meldete auch Gisela, die sich auf den Boden legte und an den Abgrund heranrobbte, um ungefährdet hinabsehen zu können. »Ein kleiner Junge …«
»Er ist tot«, behauptete Rupert.
Tatsächlich lag der Kleine bewegungslos auf dem Stein.
Aber Gisela schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ist er nicht, er weint ja. Du da! Hörst du mich?« Sie hob die Stimme und rief das Kind an.
Der kleine Junge hob den Kopf. »Hilfe!« Die zarte Stimme war kaum hörbar, aber der Kleine war sicher am Leben.
Armand seufzte. Er würde helfen müssen, sie konnten das Kind nicht liegen lassen.
»Bist du verletzt?«, fragte Gisela. »Tut dir was weh?«
Der Kleine antwortete etwas Unverständliches, er hielt seinen Arm, der gebrochen zu sein schien. Jetzt versuchte er, sich aufzusetzen. Sehr schwer verletzt konnte er also nicht sein. Aber die Felsnase war kaum groß genug, um ihm Halt zu geben.
»Hör mal, wir werfen dir ein Seil herunter!« Gisela machte Anstalten, ihre eigene Sicherheitsleine zu lösen.
»Gisela! Was soll das? Untersteh dich!« Armands Stimme klang heiser vor Schrecken. Und seine Worte waren viel schärfer als beabsichtigt. »Bleib, wo du bist! Ich mache das. Ich muss nur … in meinen Satteltaschen ist mehr Tauwerk.«
Der junge Ritter tastete sich mühsam an Rupert vorbei und zu den Pferden vor. Zum Glück stand Floite ganz ruhig, während er sich an ihre Seite hangelte. Und auch Comes rührte keinen Huf, als Armand sich an ihn klammerte. Er hing fast über der Steilwand, während er die Satteltaschen durchsuchte. Pferd und Mensch fanden nebeneinander keinen Platz auf dem schmalen Weg. Aber dann fand er die Seile und die Kletterausrüstung, die der Bergführer in Göschenen ihm empfohlen hatte. Wenn er nur genauer gewusst hätte, wie man all das einsetzte! Steigeisen, Hammer, Haken … Sie hätten einen weiteren Tag im Dorf bleiben und sich wenigstens in die Grundlagen der Bergsteigerei einweisen lassen sollen.
Aber jetzt war es zu spät. Armand kroch zurück in Richtung Felsnase und dankte dem Himmel, dass sich wenigstens das Wetter zu halten schien. Die Nebelschwaden unter ihnen lichteten sich – allerdings war der Anblick, der ihnen geboten wurde, kein Trost für den Ritter. Der Berg fiel fast senkrecht ab, nur gelegentlich war eine Art Stufe erkennbar, ähnlich der, auf der sich Armand und die anderen Wanderer hier über den Pass hangelten. Wenn der kleine Junge von seiner Felsnase herunterstürzte, dann fiel er weitere fünf oder sechs Längen in die Tiefe – oder gar ganz in den Abgrund.
Armand versuchte, einen Haken in die Felswand zu schlagen, um Halt zu finden, während er das Kind zu sich heraufzog. Aber die Rettungsaktion scheiterte schon daran, dass der Kleine mit dem heruntergelassenen Seil nichts anfangen konnte.
»Wie auch, sein Arm ist gebrochen, und er muss steif sein vor Kälte!«, sagte Konstanze. »Allein schafft er das nicht. Rupert, du musst hinunterklettern und ihm helfen!«
»Ich?«, fragte Rupert unwillig. »Das ist doch hoffnungslos! Wer da hinuntersteigt, stürzt!«
»Du hast gestern noch gesagt, du seiest ein guter Kletterer!«, erinnerte ihn Gisela.
Armand warf einen Blick in den Abgrund und schauderte. Aber es half nichts. Rupert wollte nicht, und wenn er unwillig war, würde es nicht gelingen, das Kind zu bergen. Es genügte eine ungeschickte Bewegung, um es vom Felsen zu stoßen. Er selbst war zudem leichter als der Pferdeknecht. Rupert konnte ihn mühelos sichern. Nochmals prüfte er den in den Fels geschlagenen Haken.
»Ich gehe«, sagte er dann tonlos und schlang das Ende des Seils um den Haken. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher