Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
war die Frau auf dem Foto ja auch gar nicht deine Freundin, vielleicht habt ihr nur eine Reise zusammen gemacht. »Darf man nicht überinterpretieren«, wie es bei den Germanisten immer so schön heißt. Der Zettel, der kann auch von irgendjemandem sein … Ach, Fil, weißt du, eigentlich hast du mich ja nie interessiert. Warum sollte man was über jemanden wissen wollen, der sich für einen selbst nie interessiert hat? Aber Scheiße, jetzt so als Maschinenkörper interessierst du mich dann doch. Ich will wissen, wer du bist, warum du so gelebt hast, und deshalb will ich auch, dass du es schaffst, mit einer neuen Lunge wieder aufwachst. Wer wärst du dann wohl? Ist ein Mensch, bei dem das Wichtigste herausgerupft und durch Teile eines anderen ersetzt wird, noch derselbe Mensch? Fil, was glaubst du? Wärst du dann nicht mehr mein Vater? … Beziehungsweise: Wärst du dann endlich mein Vater?
Daniel verstummt, wundert sich über seinen Monolog, das Selbstmitleid, in dem er sich ergießt, die Träne, die ihm überdie Wange läuft, steht abrupt, leicht benommen auf, schiebt die Sichtblende mit einer knappen Handbewegung beiseite, versucht den Blicken der Pfleger auszuweichen. Geht grußlos zum Ausgang.
Im Vorraum streift er den Kittel ab und stopft ihn in den Wäschekorb neben der Schleuse.
Des Desinfektionsgeruchs kann er sich nicht so einfach entledigen.
Draußen auf der Straße ist es heiß, wieder unsagbar heiß.
Das Gefühl, zu zerfließen, sich in der Warmluft, die sich über der Stadt festgesetzt hat, aufzulösen, gänzlich in der drückenden Feuchtigkeit zu diffundieren. In Berlin wartet man sechs Monate darauf, dass der Winter vorübergeht, doch wenn es schließlich so weit ist, sieben heiße Tagen aufeinander folgen, auf drei Sonnentage nicht gleich wieder die nächste Schlechtwetterfront folgt, sehnt sich die Stadt sofort nach Abkühlung, einem reinigenden Gewitter, einem Ende der unerträglichen Hitzewelle .
Daniel duscht kalt, obwohl er kaltes Wasser eigentlich hasst, duscht seit einer Woche dreimal täglich so kalt es geht, damit sich das Gewebe zusammenzieht und den Körper für einen Moment unter sich einschnürt, sprüht sich Deodorant unter die Achseln, an den Hals, hinter die Ohren, denn die Stadt riecht, stinkt atemberaubend nach Müll, Hundekot, Schweiß, verfaulendem Obst, nach Pisse, Verwesung, Asphalt, Bier, Dreck, verdunstenden Lösungsmitteln. In Göttingen, erinnert sich Daniel, war alles zu herausgeputzt, um Geruch zu entfalten. Roch es höchstens mal nach Bohnerwachs.
Als es Abend wird, die Sonne tiefer steht, so tief, dass dasKlettergerüst auf dem Kinderspielplatz seinen Schatten bis auf die Liegewiese wirft, telefoniert er mit Steffen, verabredet sich mit dem Mitbewohner, Ex-Mitbewohner, zukünftigen Mitbewohner für den kommenden Tag, denn in der alten Wohnung steht, seit sie bei Immobilienscout inseriert haben, das Telefon nicht mehr still. Er verspricht Steffen zu kommen, obwohl Steffen erklärt, dass das nicht nötig sei, er total gut verstehe, wenn Daniel sich jetzt auf andere Sachen konzentrieren müsse. Konzentrieren, denkt Daniel, als er auflegt, mich auf das Leben meines Vaters konzentrieren, das jetzt am seidenen Faden hängende Leben, und zieht sich dann die Schuhe an, um zu Beule zu gehen.
Er will wissen, was es mit dem Foto auf sich hat, der Frau, der Autofahrt durch Osteuropa, den Lyrikbänden; will wissen, wo die Frau wohnt, ob sie damals wirklich mit dem Vater zusammen war. Beule, denkt Daniel, kann mir den Vater nicht erklären, bei Beule ist alles nur ein Comic-Strip, aber die Frau, Fils damalige Freundin, sie tickt vielleicht anders, ich muss sie finden.
Eine Viertelstunde später steht er beim Freund des Vaters vor der Tür. Beule öffnet gleich nach dem ersten Läuten, er scheint abends selten wegzugehen, seine Freizeit fast immer zu Hause zu verbringen. Beim Eintreten stellt Daniel erleichtert fest, dass der Geruch kalter Asche jeden anderen olfaktorischen Reiz überdeckt, die Stadt in dieser Wohnung nur nach Zigaretten stinkt.
Noch auf dem Gang, noch bevor sie sich setzen, fängt Daniel an zu reden. Dass der Vater erstaunlich viel Geschmack habe, die Wohnung überraschend gut eingerichtet sei, Fil überhaupt ganz neue Seiten offenbare, Seiten, die Danielvöllig unbekannt seien: ein ordentlicher, fast schon pedantischer Vater. Mir hat er nie erzählt, sagt Daniel, dass er Buchhaltung macht, warum glaubst du wohl, hat er mir das nie erzählt,
Weitere Kostenlose Bücher