Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
einmal gesehen hat. Als er acht war, in den Ferien noch nach Berlin fuhr. Haben sie jemals etwas zu drittunternommen, oder wollte der Vater das nicht? Hatte sie kein Interesse, oder war Conny dagegen, dass eine fremde, viel zu junge Frau, etwas mit Daniel unternahm? Michaela war 24, rechnet er nach, als ich acht war, sie hätte eine große Schwester sein können.
Ich muss nach Rumänien, denkt Daniel, ich muss mit ihr sprechen.
Doch bevor er aufsteht, um die Sache in die Hand zu nehmen, diese Reise, um endgültig aus der Spur zu geraten, der Spur, an der etwas nicht stimmt, fragt er Beule nach Fotos. Ich will wissen, wie ihr gelebt habt, sagt er, bei Fil gibt es nur eine Handvoll Aufnahmen, ich habe alles durchgeschaut.
Aber Beule schüttelt den Kopf. Nein, sie hätten sich nicht gern fotografieren lassen.
Warum denn das schon wieder?
Keine Ahnung, antwortet der Freund des Vaters, weil ihre Eltern sie immer mit Dia-Shows terrorisierten, sie mit einem Bein in der Illegalität standen, sie keinen Gedanken daran verschwendeten, dass man aus der Zukunft in die Vergangenheit blicken könnte? Es gab ja keine Zukunft, sagt er, wozu hätten sie dann Geschichtsschreibung betreiben sollen?
Aber es muss doch Bilder gegeben haben, insistiert Daniel, es müsse doch irgendwelche Aufnahmen von ihnen geben, irgendwer im Freundeskreis fotografiere doch immer.
Doch Beule schüttelt wieder nur den Kopf, grinst, und Daniel, dessen Augen dem Blick seines Gegenüber folgen, aus dem Fenster, auf die Straße, eine abgasverschmutzte Häuserfassade entlang, denkt: In was für einer Welt haben sie gelebt, warum erschienen ihnen die selbstverständlichstenDinge unmöglich: mit der Familie wohnen, ein Foto schießen, sich um die Kinder kümmern, die wenigen Kinder?
Ihr wart echt Spinner, sagt er empört.
Aber Beule legt nur den Kopf in den Nacken und lässt die Schulterblätter knacken.
V
Brautkutsche hält / Bräutigam ab ins Gebüsch / Braut träumt einen kurzen Regen / Wald macht Szene // Aus dem Gebüsch ein Hundekopf / aus dem Gebüsch ein Kalb / ein Kalb mit einem Hundekopf / niemand sieht zu // Wald traurig / Wald dichtet: // »Kalb mit Hundekopf ist der schlimme / Prikulitsch / alles fürchtet sich / alles sieht zu!« // Aus dem Gebüsch / niemand sieht Regen / niemand sieht kurzen Regen / niemand Brautkutsche / niemand in Kutsche ab / Vöglein von links: // »Prikulitsch Prikulitsch!« // Wer es liest / der hats gelesen
Daniel schiebt den Lyrikband beiseite, in dem Gedichte abgedruckt sind, die er nicht recht versteht, den Reiseführer, das Fotobuch mit den Aufnahmen aus der verlassenen Stadt, sterbendes Siebenbürgen : ein dunkles Treppenhaus, eine nackte, von der Decke starrende Glühbirne, kaputte Briefkästen. Von hier, denkt Daniel, stammt die Frau; die Frau, die weiß, wer der Vater ist.
Er steht auf, klemmt sich das Buch aus Fils Regal unter den Arm, gibt die anderen Bücher, die er aus dem Magazin hat kommen lassen, an der Ausleihe zurück, holt seine Sachen aus dem Schließfach. Ohne etwas für die Hausarbeit, an der zu arbeiten er eigentlich gekommen war, getan zu haben.
Vor der Staatsbibliothek, schräg gegenüber jener ausgedehnten Parkanlage, in deren Mitte ein goldener Engel herausfordernd, militärisch, auf einer gigantischen Säule thronend, Richtung Westen blickt, Richtung französischer Erbfeind, Richtung wichtigster Verbündeter, ein Engel, den man von dieser Stelle aus allerdings nicht sieht, beschließt Daniel zu Fuß nach Hause zu gehen, sich Zeit zu nehmen. Er läuft also am Kanal entlang, fünf Kilometer bis zum Weichselplatz, denkt er, etwa eine Stunde zu Fuß, und bricht schon nach wenigen Schritten in Schweiß aus, beginnt am ganzen Körper zu schwitzen. Ich hätte Sandalen anziehen sollen, denkt er, anstelle von Fils Turnschuhen lieber die Sandalen aus dem fremden Schrank nehmen, mich nicht in die verschwitzten Fußstapfen des Vaters begeben sollen: abgetragene, nicht mehr ganz frische Berufsjugendlichkeit.
Er folgt also dem Schöneberger Ufer, den zähen, dichten, metallicfarbenen Verkehr im Rücken, an der Shell-Tankstelle, dem Museum für Verkehr und Technik, dem an der Museumsfassade herunterhängenden Flugzeug vorüber – herunterhängend, als wolle es abstürzen –, und spürt plötzlich, wie trocken sein Mund ist, schon jetzt voller Schaum. In diesem Augenblick erinnert er sich, links das Postbank-Hochhaus mit dem Firmen-Logo weit oben flirrend im Sommerhimmel, an die Frau, mit
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