Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
verstehen können, auf den Vater ein.
Beule, sagt er, behauptet, ihr hättet Supermärkte geplündert, ihr wärt so was wie Stadtteil-Robin-Hoods gewesen, immer in der guten Sache unterwegs, obwohl Robin Hood eigentlich nicht besonders treffend ist, eher schon Zorro, der Typ mit der Maske, alle kennen seine Taten, aber niemand weiß, wer er wirklich ist, zumindest ich habe keine Ahnung. Beule sagt auch, du hättest als Buchhalter gejobbt, hast du mir das wirklich nie erzählt, oder habe ich das einfach nur vergessen?, Buchhalter, und dann immer das Gespött über Lehramt, das Studium auf Lehramt … Verdient man als Buchhalter gut genug, um sich so eine große Wohnung zu leisten, oder hast du dir dein Geld anders beschafft? Deine Wohnung ist toll, habe ich dir das schon gesagt? So viel Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut, ich frage mich die ganze Zeit, ob du dich verändert hast oder mich bloß die Erinnerung bescheißt. Elfi, die Mutter meiner ersten Freundin, hat ja immer behauptet, dass Wohnungseinrichtungen etwas über die Freundinnen aussagen, neue Beziehung, hat sie gesagt, neues Interieur, vielleicht war es das, vielleicht hattest du eine Freundin mit Einrichtungstick, oder habt ihr auch bei IKEA geplündert? Gab es in den Achtzigern überhaupt schon IKEA ? Meine Ferien bei euch habe ich ja eher muffig in Erinnerung, eher Sperrmüll als IKEA , aber vielleicht war ich da auch überempfindlich, als Kind ist man ja manchmal etwas, wie soll ich sagen, etepetete …
Daniel greift in die Seitentasche seiner Hose, zieht eine kleine Flasche Cola heraus, Coke Zero, die mit einem Zischen aufspringt, das Geräusch erinnert an einen Fahrradplatten.
Stört es dich, wenn ich eine Coke trinke, oder stört dich nur, dass ich sie kaufe und nicht plündere?
Die Kälte und die Kohlensäure treiben ihm Tränen in die Augen, der Desinfektionsgeruch der Station vermischt sichmit dem künstlichen Geschmack der zuckerfrei-übersüßten Koffeinlimonade. Erst dann fällt ihm ein, dass er auf der Intensivstation wahrscheinlich gar nicht trinken darf und schraubt die Flasche schuldbewusst wieder zu – schuldbewusst, als habe er an irgendetwas Schuld.
Habe ich dir das schon gesagt? setzt er mit seinem Monolog neu an, wir ziehen bei dir ein, wir, also Steffen und ich, wir brauchen nur noch Nachmieter für unsere Wohnung in Friedrichshain, ich fürchte allerdings, das wird sich hinziehen, wer will schon in die Eldenaer Straße und dann auch noch für sechshundert Euro? Müssen wir hoffen, dass bald wieder ein Schub naiver Erstsemesterstudenten nach Berlin zieht, naiv, ahnungslos, aber zahlungskräftig.
Daniel lacht auf, nestelt an der Flasche herum, ihm ist peinlich, was er da redet – es ist peinlich und fühlt sich doch gut an –, lässt Fils Finger los und lehnt sich nach vorn.
Aber kommen wir zur Sache: Was hast du mit Lyrik am Hut? Meinen Professoren würde das gefallen, so feinsinnig, überhaupt dieser Wandel: vom Straßenkämpfer zum kulturbeflissenen Buchhalter. Niemand liest heutzutage Gedichte. Ich glaube ja, die Bücher, sie haben mit dieser Frau zu tun, stimmt's? Die Frau von den Fotos, ihr wart mal in Osteuropa zusammen, ihr wart mit einem Auto da, ja, ich hab deine Sachen durchstöbert, aber irgendwie muss ich mich ja informieren. War sie deine Freundin? Hat sie die Bücher gekauft? Und warum seid ihr nach Osteuropa gefahren? Wegen der Supermärkte? Lohnt sich wahrscheinlich nicht so. Nein, du warst Autoschieber, du hast geklaute Autos verkauft. Oder doch was ganz Braves? Urlaub am Balaton? … Ich hab im Fernsehen gehört, das sei das Mallorca der Ossis gewesen. Wäre wirklich schön, wenn du ein paar Notizen dagelassenhättest, ein paar stichpunktartige Bemerkungen zu deinem Leben, damit ich Bescheid weiß, falls ich mal von Nachbarn auf dich angesprochen werde, klingt ja irgendwie blöd, wenn man antworten muss, ja, das ist mein Vater, aber tut mir leid, ich hab keine Ahnung von ihm … Das mit der Lyrik ist auf jeden Fall irritierend, wer liest heute schon noch Gedichte! Nur wer die Sprache wirklich liebt, liest heute noch Lyrik, sagt mein Germanistikprofessor immer. Mit dem würdest du dich überhaupt gut verstehen, das ist der letzte Achtundsechziger an der ganzen Uni … Verstehst du dich mit Achtundsechzigern oder sind sie dir nicht radikal genug? Ach ja, und »verbockt«? Was hat das zu bedeuten: verbockt ? Stand auf einem kleinen gelben Zettel: »Fil, du hast alles verbockt.« Vielleicht
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