Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
die Daniel als Kind zeigen, immerhin besitzt der Vater Aufnahmen von ihm, liegen Bilder einer Frau: brünett, nicht besonders groß, Ende zwanzig. Die Frau – Nasenring, schwarze Jeansjacke, Sonnenbrille – vor einem Transparent, Daniel kann den unvollendeten Halbsatz kein mensch ist … entziffern; an einem Strand: an ihren Schenkeln klebt Sand, sie hält ein Buch in der Hand; in einem Café neben dem Vater, wieder mit Sonnenbrille, beide in die Kamera grinsend, ein strahlender Tag. Und schließlich Fil und die Frau neben einem Mercedes auf einer von Schlaglöchern übersäten Landstraße. Im Hintergrund sieht man Gänse vor einem baufälligen Bauernhof, ein altes, von Staub überzogenes Auto, einen verrosteten Pflug. Daniel war noch nie in Osteuropa, aber er ist sich sicher, dass das Foto dort aufgenommen worden sein muss: im Osten Ungarns, der Slowakei, in Rumänien, und plötzlich fallen ihm die Bücher aus dem Regal wieder ein: deutschsprachige Lyrik aus Rumänien, Germanistenspielwiese. Haben die Bücher mit der Reise zu tun?
Zwischen den Fotos ein kleiner quadratischer Zettel, hellgelb, früher einmal selbstklebend, jetzt an der Gummierung vom Dreck schwarz verfärbt, du hast es verbockt , steht darauf, du hast alles verbockt . Daniel betrachtet die Frau und überlegt, ob er sie kennt, als Kind schon einmal gesehen hat, und obwohl er sich nicht an ihr Gesicht erinnert, ist er sich sicher, dass sie eine wichtige Rolle in Fils Leben gespielt hat, vielleicht immer noch spielt, und plötzlich ist er davon überzeugt, diese Frau finden zu müssen, weil sie ein Schlüssel sein könnte, ein Schlüssel zum Verständnis des Vaters, denkt er, dass er sie suchen muss, weil er den Vater nicht mehr suchen kann.
Doch bevor er sich auf diese Suche begibt, fährt er noch einmal ins Krankenhaus, absolviert die vorgeschriebene Prozedur, diesmal fast schon routiniert: streift sich vor der Schleuse den Kittel über, reibt sich die Hände mit Provon ein, dem Desinfektionsmittel, das ein stumpfes Gefühl auf den Fingerkuppen hinterlässt, drückt die schwere Metalltür zur Intensivstation auf. Das Krankenhausinnerste, die Abteilung für lebensgefährliche Krankheiten und Verletzungen, bietet einen unveränderten Anblick: die Pfleger hinter ihrem senfgelben Pult mit den Kontrollarmaturen, der Vater reglos, von piepsenden Messgeräten umzingelt, eine verletzliche Existenz, ein Leben an einem seidenen Faden; an der Halsschlagader die Kanüle wie eine fette, auf den Tod lauernde Fliege.
Daniel ist froh, dass die Krankenschwester kommt und die Sichtblende zuzieht, dass er der einzige Besucher auf der Station ist, auch diesmal ein Hocker neben dem Bett bereitsteht. Unbeholfen greift er nach dem kleinen Finger des Vaters, dem einzigen Körperteil oberhalb des Bauchnabels, der nicht maschinell verschaltet zu sein scheint, hält ihn umklammert, wartet darauf, dass etwas geschieht. Die Aufforderung, mit dem Patienten zu sprechen, erscheint ihm diesmal noch lächerlicher – so bleibt er erst einmal stumm neben dem Vater sitzen, verfolgt die Kurven der Oszillatoren, fragt sich, ob die Spitzen des EEG -Geräts, die Bewegungen auf dem Bildschirm etwas mit seinem Besuch zu tun haben, ob zumindest das Unterbewusstsein des Vaters ihn bemerkt hat, Daniel, der junge Typ, mit dem ich neulich Bier trinken war , vielleicht sogar, Daniel, mein Sohn , oder ob die Ausschläge nur der ungezielten Entladung von Nervenzellen geschuldet sind: Wie viel in einem Körper ist reine Biochemie?
Noch einmal tritt die Krankenschwester heran, steckt den Kopf durch die Sichtblende, beendet mit einem einzigen Handgriff das irritierende Piepsen der Geräte, und Daniel denkt dankbar: so einfach endet die Diktatur der Maschinen. Die danach eintretende Stille, das Tuscheln der Pfleger, die gedämpfte Hintergrundkulisse, die an die Stimmung in Kirchen erinnert, erweist sich jedoch als nicht weniger bedrückend, so dass Daniel schon bald nach einem Vorwand sucht, wieder zu gehen: dass er dem Vater nichts schuldig ist, dass Beule versprochen hat, Fil täglich zu besuchen, diese Begegnung sowohl für den Patienten als auch für Daniel selbst zu belastend ist. Aber jedes Argument fühlt sich falsch an – als rufe das Gedächtnis Dialoge aus einer Krankenhausserie ab.
So beginnt Daniel dann doch noch mit dem Vater zu sprechen, stimmt in das Stationstuscheln ein, das sakrale Flüstern, redet leise, so leise, dass die Pfleger an ihren Kontrollpulten ihn nicht
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